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Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Titel: Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedemann Schulz von Thun
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und Gesellschaft unterscheiden und jeweils die Entstehung der Selbstoffenbarungsangst sowie die Strategien ihrer Bewältigung daraus ableiten. Die eine Art des Zusammenstoßes ergibt sich aus dem kindlichen So-sein und den gesellschaftlichen Normen; das Kind merkt sehr bald, dass ein Teil seiner Persönlichkeit unerlaubt und böse ist, und findet guten Grund, dieses ungeliebte Ich zu verstecken. Dieser Vorgang der Verdrängung unerwünschter Teile der Person ist in der psychoanalytischen Literatur ausführlich beschrieben worden.
    Die andere Art von Zusammenstoß ergibt sich aus der kindlichen Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit und den gesellschaftlichen Leistungsanforderungen. Das von dem Tiefenpsychologen Alfred Adler als menschliches Schicksal postulierte «Minderwertigkeitsgefühl» führt zu der Schlussfolgerung: «So (unzulänglich) wie ich bin, kann ich mich nicht vorzeigen!» und zu zahlreichen Versuchen, die Selbstaufwertung zu betreiben.
    Verfolgen wir diese beiden Entwicklungslinien der Selbstoffenbarungsangst etwas ausführlicher.

    Zusammenstoß zwischen kindlicher Eigenart und gesellschaftlichen Normen. Ein Grunderlebnis für jedes Kind ist die teilweise Unvereinbarkeit seiner Wünsche und Eigenarten mit den gesellschaftlichen Normen. «Bravsein, wenig verlangen, sich unterwerfen, nichts kaputtmachen, Wut unterdrücken, keine Sexualität zeigen usw., das sind die unendlich schwer zu verinnerlichenden Verbote, von denen es abhängt, ob ein Kind sich gut fühlen darf.» (Richter 1974, S. 80) Meist sind es in erster Linie die Eltern, die durch Lohn und Strafe, durch Liebe und Liebesentzug diese Normen vermitteln und dem Kind die Angst vor seinem ungeliebten Ich beibringen. Diese Angst ist berechtigt, keineswegs neurotisch und führt zur Anpassung und zur Unterdrückung der «bösen» Anteile. In diesem Prozess werden die Eltern (und später die Nachbarn, Kindergärtner, Lehrer, Altersgenossen) zu einer Art Richter, vor deren Augen man zu bestehen hat, um Glück und Selbstwertgefühl zu erlangen. Und das Kind lernt, dass nur bestimmte Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen, die in ihm sind, den Beifall der Richter finden; andere sind «schlecht» und müssen unterdrückt und vor anderen verborgen werden (s. Abb. 39).

    Abb. 39:
    Das Kind merkt bald, dass nur ein Teil seiner Person liebenswert ist. Folge: Abspaltung von Persönlichkeitsanteilen.
    Nun geschieht aber noch ein Weiteres: Das Kind macht im Laufe der Zeit die Urteile seiner Richter zu seinen eigenen, es «verinnerlicht» sie. Verbotene Gefühle und Handlungsimpulse brauchen zur Unterdrückung keinen Richter von außen mehr, sie lösen automatisch Schuld- und Schamgefühle aus: Der Richter ist in uns in Gestalt eines Gewissens, Ehrgefühls oder Über-Ichs. Durch diese Über-Ich-Bildung kommt die Angst nicht mehr so stark auf, denn Impulse, die Strafe nach sich ziehen, werden rechtzeitig unterdrückt – ein Deckel auf der Schlangengrube.
    Der Richter ist also in uns, aber: wir projizieren ihn auch wieder nach außen, dorthin, wo wir ihm ursprünglich begegnet sind – in der Gestalt anderer Menschen. Wer in einem Warenhaus eine Vase stiehlt und sie unter seinem Rock verbirgt, fühlt mit einem Mal die Blicke aller Kunden und Verkäufer auf sich gerichtet, fühlt sich ertappt und verurteilt, umgeben von Detektiven und Richtern. Etwas abgeschwächt ergeht es uns im alltäglichen Leben: Stets etwas «Verbotenes unter dem Rock», projizieren wir den eigenen inneren Richter in die anderen Menschen hinein, besonders in solche, die Ähnlichkeit mit den «alten Richtern» haben (sog. Autoritätsängste), sei es durch ihr Alter, ihr Aussehen oder ihr Verhalten – etwa wenn sie zu erkennen geben, dass sie uns kritisch beobachten. Sogleich befürchten wir, dass sie uns «fertigmachen», und zwar wegen derjenigen Eigentümlichkeiten, die wir an uns selber beschämend oder schwächlich wähnen.
«Auf Grund der Angstbereitschaft, die wir seit unserer Kindheit in uns haben, reagieren wir auf jeden Menschen, der uns mit strafender oder vorwurfsvoller Gebärde gegenübertritt, mit kurzer spontaner Angst. Der andere nimmt dabei – nicht objektiv, aber in unserer subjektiven Empfindung – vorübergehend den Charakter einer autoritären und uns überlegenen Richterfigur an. Wir befinden uns wieder in einer Art Bewährungssituation, in der wir bestehen müssen vor dem anderen. Nichtbestehen bedeutet Angst. Um diese Angst loszuwerden, ziehen wir spontan und

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