Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation
unbewußt alle Register, mit denen wir Sympathie, Anerkennung und Respekt gewinnen können.» (Duhm 1972, S. 22)
Bei dieser Projektion (die anderen sind Richter, vor deren Urteil ich zu bestehen habe) handelt es sich eher um eine neurotische Angst. Neurotisch deshalb, weil sie inzwischen teilweise überflüssig ist (im Gegensatz zur real begründeten Angst des Kindes). Nicht, dass die ständige Beurteilung durch andere pure Einbildung wäre. Ein wenig ist das Selbstoffenbarungs-Ohr des Empfängers stets gespitzt. Aber es handelt sich um eine erlebnismäßige Übertreibung dieses Sachverhaltes. Meist hat der Empfänger ganz andere Sorgen; nicht selten wähnt er selbst etwas «Verbotenes unter seinem Rock» und ist sehr damit beschäftigt, der Entdeckung und Verurteilung zu entgehen.
Zusammenstoß von kindlicher Unzulänglichkeit mit den Leistungsmaßstäben der Umwelt. Das grundlegende Erlebnis für das Kind ist nach Adler das Erlebnis der eigenen Minderwertigkeit:
«Faßt man die Kleinheit und Unbeholfenheit des Kindes ins Auge, die so lange anhält und ihm den Eindruck vermittelt, dem Leben nur schwer gewachsen zu sein, dann muß man annehmen, daß am Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder minder tiefes Minderwertigkeitsgefühl steht.» (Adler 1966, S. 71)
«Klein, schwach, unorientiert, hilflos tritt der Mensch das Leben an. In jeder Weise gegenüber den Erwachsenen benachteiligt, empfindet das Kind ein Unsicherheitsgefühl. Es strebt nach Sicherheit. ‹Großwerden› wird zu seinem Wunschziel. ‹Großsein› bedeutet, in der Lage zu sein, einen Gegenstand zu nehmen, eine Tür zu öffnen, den Umkreis seiner Bewegungen zu erweitern, sich viele Wünsche zu erfüllen …» (Jacobi 1974, S. 54)
Unter günstigen Umständen (wenn sich das Kind erwünscht fühlt, seinen vollwertigen Platz in der Gemeinschaft findet und auf seinem Lernweg ermutigt wird) baut sich rasch ein gesundes Selbstwertgefühl auf. Häufig sind aber die Erfahrungen in der Kindheit geeignet, das Minderwertigkeitsgefühl zu verstärken: So führt etwa ein übermäßig behütender, verwöhnender Erziehungsstil dazu, dass das Kind den Eindruck empfängt, aus eigener Kraft nicht zu taugen, und schlecht gerüstet in ein Leben tritt, in dem ihm auf Grund seines Lernrückstandes erniedrigende Erfahrungen und Blamagen bevorstehen. Auch können empfindliche Niederlagen in der Geschwisterrivalität im Kind ein Gefühl der Unterlegenheit erzeugen. Schließlich sind alle herabsetzenden Beziehungsbotschaften seitens der Umwelt geeignet, ein negatives Selbstbild des Kindes zu verfestigen («Mit mir ist nicht viel los!» – vgl. Kap. B III, 5, S. 216f.).
Je stärker das Minderwertigkeitsgefühl ausgeprägt ist, umso mehr ist nach Adler der Mensch darum besorgt, dieses quälende Gefühl zu kompensieren und die eigene Selbstaufwertung zu betreiben. Jedes Streben nach Geltung, Überlegenheit und Macht wurzelt in dem Bemühen, die eigene (eingebildete oder reale) Schwäche zu überwinden (Kompensation) und dabei möglichst – zur besseren Sicherung – über das Ziel hinauszuschießen («Überkompensation»). Die Selbstoffenbarungsangst erweist sich aus dieser Sicht heraus als eine Angst vor der Entlarvung als Versager. Je stärker das Minderwertigkeitsgefühl des Erwachsenen ausgeprägt ist, umso mehr
phantasiert er seine Mitmenschen in die Rolle von strengen Richtern hinein, vor deren Augen er zu bestehen und vor denen er den «unansehnlichen» Teil seiner Person zu verbergen habe, um halbwegs anerkannt zu werden;
fasst er auch harmlose Situationen (z.B. Glücksspiele, Gastgeber sein, sexuelles Beisammensein) leistungsthematisch auf, d.h., er erlebt das Ganze als eine Art Bewährungsprobe seiner Person;
sieht er in dem anderen einen Rivalen und fürchtet die Niederlage im Wettlauf um Geltung und Prestige.
1.2
Die Welt von Richtern und Rivalen – ein Phantasieprodukt?
Nicht, dass die Welt von Richtern und Rivalen ein reines Phantasieprodukt, bloß eine neurotische Projektion wäre. Im Gegenteil sind wichtige Lebensbereiche in unserer Gesellschaft (z.B. Schule und Arbeitsleben) so eingerichtet, dass sie notwendig zu Brutstätten der Selbstoffenbarungsangst werden: Sie sind nach dem Leistungs- und Rivalitätsprinzip aufgebaut.
So sollte die Schule eigentlich dem Lernen und der Persönlichkeitsbildung dienen. Da aber die Schule gleichzeitig die gesellschaftliche Funktion erfüllt, die Spreu vom Weizen zu trennen, d.h. die Schüler auf
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