Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation
der erschütternden Geschichte seiner Krankheit: «Obwohl ich noch nicht wußte, daß ich Krebs hatte, stellte ich intuitiv bereits die richtige Diagnose, denn ich betrachtete den Tumor als ‹verschluckte Tränen›. Das bedeutete etwa soviel, wie wenn alle Tränen, die ich in meinem Leben nicht geweint hatte und nicht hatte weinen wollen, sich in meinem Hals angesammelt und diesen Tumor gebildet hätten, weil ihre wahre Bestimmung, nämlich geweint zu werden, sich nicht hatte erfüllen können. Rein medizinisch gesehen trifft diese poetisch klingende Diagnose natürlich nicht zu, aber auf den ganzen Menschen bezogen sagt sie die Wahrheit aus: Das ganze angestaute Leid, das ich jahrelang in mich hineingefressen hatte, ließ sich auf einmal nicht mehr in meinem Innern komprimieren; es explodierte auf Grund seines Überdruckes und zerstörte bei dieser Explosion den Körper.» (S. 132)
Menschen, die ihre Gefühle «herleiten» und über Umwege rekonstruieren und dabei mehr ein Wunschresultat als die emotionale Realität zutage fördern, halten oft kleine Vorträge, wenn sie nach ihren Gefühlen gefragt werden. Sie mobilisieren ihren «Pressesprecher», der gleichsam ein offizielles Kommuniqué herausgibt – in abgewogenen, vorsichtigen, meist wenig sagenden Formulierungen. Da ein solcher Kommunikationsstil in weiten Bereichen unseres Lebens als «souverän» und anständig gilt, ist er üblich und fast selbstverständlich.
4.2
Selektive Authentizität
Der Wegweiser, der in Richtung «mehr Offenheit und weniger Fassaden» weist, unterliegt leicht der Gefahr, missverstanden zu werden im Sinne einer Devise: «Lass alles heraus, was in dir ist – was der andere damit macht, ist sein Problem!» Um diesem Missverständnis vorzubeugen, hat Ruth Cohn den Begriff der «selektiven (= auswählenden) Authentizität» geprägt:
«Zur Authentizität gehört – erst einmal – zweierlei: Das eine ist, mir möglichst klar zu werden über meine eigenen Gefühle, Motivationen und Gedanken, mir also sozusagen nichts vorzumachen. Das andere ist, das, was ich sagen will, ganz klar auszusprechen. Zur Klarheit gehört, daß ich es so sage, daß es beim anderen ankommen kann. Der andere hat ja ein ‹Empfangsgerät›, das möglicherweise nicht auf mich eingestellt ist, auf das, was ich ‹sende› und wie ich es ‹sende›. Ich muß also versuchen, mir vorzustellen, wie das, was in mir vorgeht, vom anderen gehört wird. Ich habe einmal formuliert: ‹Nicht alles, was echt ist, will ich sagen, doch was ich sage, soll echt sein …›»
«Für mich ist Offenheit nicht etwas, das von Anfang an zwischen Menschen möglich ist, sondern etwas, das vorsichtig erworben und gelernt werden muß. Das kann man nicht sofort und mit Gewalt.»
«Ich glaube allerdings, daß sogar in der allerbesten Beziehung immer noch verschlossene Bereiche übrigbleiben. Ich kann mir keine Beziehung vorstellen, in der totale Offenheit zu jeder Zeit möglich und zu ertragen ist. Ich unterscheide deshalb zwischen optimaler und maximaler Authentizität. Die Richtlinie ist: das, was sich an persönlicher Erfahrung im Inneren ereignet, mit optimaler innerer Ehrlichkeit und kommunikativer Klarheit – also authentisch – dem Partner mitzuteilen. Optimale Authentizität hat immer selektiven Charakter; maximale, d.h. absolute Aufrichtigkeit kann zerstören. Ich glaube, daß absolute Offenheit ein Aberwitz ist. Andererseits hat unsere Zivilisation eine lange Zeit destruktiver Verschwiegenheit und Heuchelei auszugleichen. Ich glaube daher, daß mit der Offenheit-um-jeden-Preis-Bewegung das Pendel in die Gegenrichtung ausschlägt. Auch hier bedarf es dynamischer Balance – zwischen Scheinheiligkeit und Rücksichtslosigkeit. Oder positiv gesagt: zwischen gutem Schweigen und guter Kommunikation» (Aus einem Interview mit Ruth Cohn 1979).
4.3
Stimmigkeit
Wenn ich gefragt werde: Worum geht es dir – allgemein gesprochen – bei deiner Kommunikation, nach welchem Wertmaßstab richtest du dich aus?, dann sage ich: Es geht mir um «Stimmigkeit». Ich gebrauche diesen Begriff, um den selektiven Charakter der Authentizität zu erläutern (wonach bestimmt sich die Auswahl?) und um die Grenzen der Authentizität als allgemeingültigen Wertmaßstab anzudeuten.
«Stimmigkeit» heißt: in Übereinstimmung mit der Wahrheit der Gesamtsituation, zu der neben meiner inneren Verfassung und meiner Zielsetzung auch der Charakter der Beziehung (auch: Rollen-Beziehung), die
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