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Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Titel: Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedemann Schulz von Thun
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eine Inkongruenz erster Art . Oder 2.: Dem Mann sind seine Gefühle gar nicht bewusst. Er glaubt sozusagen selbst, was er sagt. Dies wäre eine Inkongruenz zweiter Art; sie ist vom Standpunkt der seelischen Gesundheit viel bedenklicher.
    Die seelische Grundvoraussetzung für eine kongruente Selbstoffenbarung besteht also darin, sich selbst nichts vorzumachen. Der Mensch tendiert dazu, wahrzunehmen, was ihm in den Kram passt. Dazu ist es dann und wann erforderlich, einige Ereignisse zu übersehen oder doch so umzudeuten und «hinzubiegen», dass sie mit dem eigenen Weltbild übereinstimmen und so den Seelenfrieden erhalten. Genauso ist es mit Ereignissen, die sich in uns abspielen: Manche Gefühle und Impulse passen uns nicht in den Kram, entweder weil sie vom verstandesmäßigen Standpunkt aus betrachtet unlogisch sind oder weil sie unserem positiven Selbstbild widersprechen. Um sich den (scheinbaren) Seelenfrieden zu erhalten, haben es sich manche Menschen überhaupt abgewöhnt, ihre Gefühle direkt zu spüren, und versuchen, die Lücke mit dem Verstand zu schließen, der sich in den Dienst des Selbstbildes stellt. Diesen Sachverhalt möchte ich noch ein wenig verdeutlichen: Auf die Frage «Was fühlen Sie?» oder «Wie wirkt das gefühlsmäßig auf Sie, was der andere gesagt hat?» lassen sich bei verschiedenen Menschen zwei Arten von Reaktionen beobachten:

    Direkter Zugang zu den Gefühlen. Die einen sagen sehr direkt, wie ihnen zumute ist. Etwa auf eine Kritik reagiert jemand: «Ich fühle mich gekränkt und möchte am liebsten zurückschlagen.» Bei dieser Art von Reaktion ist die Stimme und die Mimik/Gestik oft in Übereinstimmung mit dem Inhalt der gesprochenen Worte (Kongruenz). Die Verletztheit zeigt sich sozusagen doppelt. Diese Menschen haben – jedenfalls in dem Augenblick – einen sehr direkten Zugang zu ihren Gefühlen. Sie nehmen ihren Körper wahr, spüren, was mit ihnen los ist. Sie müssen nicht darüber «nachdenken», was sie fühlen. Diese Menschen nehmen es in Kauf, dass ihre Gefühle «unlogisch» oder «nicht ideologiegemäß» sind: «Ich bin verletzt, obwohl ich weiß, du hast recht mit deiner Kritik und meinst es gut mit mir.» Oder: «Ich merke, ich werde eifersüchtig, obwohl ich finde, dass Eifersucht in unserer Beziehung nichts zu suchen hat.» Diese Menschen machen sich selbst nichts vor, lügen sich nicht in die eigene Tasche. Sie haben die Fähigkeit, «ja» zur seelischen Realität zu sagen, und gewinnen damit – wenn auch nicht immer «ihre Ruhe», dafür aber Lebendigkeit und intensive zwischenmenschliche Beziehungen. Sie gewinnen ein Stück seelische Gesundheit und haben oft tiefergehende, weniger oberflächliche zwischenmenschliche Beziehungen.

    «Hergeleitete» Gefühle. Nun die andere Reaktion auf die Frage «Was fühlen Sie?»: Bei diesen Menschen erscheint das Gefühl als Resultat gedanklicher Ausführungen, als ein Ergebnis, das wie bei einer mathematischen Ableitung schließlich aus bestimmten Prämissen und logischen Verknüpfungen folgt. Diese Menschen haben den direkten Draht zu ihren Gefühlen entweder verloren oder versuchen sich ihn selber auszureden. Das Gefühl wird gleichsam mit Hilfe von geeigneten Sacherwägungen rekonstruiert. Etwa sagt jemand, der kritisiert worden ist: «Ich finde die Kritik in dem einen Punkt berechtigt, und da es mir um die Sache geht, fühle ich mich neutral. In dem anderen Punkt halte ich die Kritik für unberechtigt, da sie das und das außer Acht lässt, sodass ich mich von diesem Punkt nicht berührt fühle.»
    Wie oben erwähnt, ist ein starres Selbstkonzept («So einer bin ich») der größte Verhinderer einer direkten Gefühlswahrnehmung (vgl. S. 225f.). Darin sieht Carl Rogers den Kern der Neurose: dass wir innere Erfahrungen verzerren oder verleugnen müssen, die nicht in unser geliebtes Selbstbild passen. Habe ich zum Beispiel das Selbstbild «Ich bin ein Mann, der seine Frau und seine Kinder und seine Eltern liebt» – dann kann ich Aufwallungen von Bitterkeit und Hass ihnen gegenüber mir selbst nicht zugestehen. Aber wohin mit diesen «nicht linientreuen» Gefühlen? Wohin mit meinem Ärger, den ich unter dem starken Einfluss meines Selbstkonzeptes vor mir selber verheimliche? Geht er in den Magen, in den Rücken, in den Nacken, in den Kopf? Psychosomatische Beschwerden aller Art haben ihren Ursprung wohl in verleugneten, nicht ausgedrückten Gefühlen (s.a. Kap. B III, 5.4, S. 227f.).
Fritz Zorn (1979) schreibt in

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