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Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Titel: Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedemann Schulz von Thun
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oder überhebliche Art, mit anderen umzugehen, von dem heimlichen Wunsch beseelt sein, die eigene Selbsterhöhung durch das Herabdrücken des anderen zu betreiben. Wieder begegnen wir hier dem Minderwertigkeitsgefühl, dessen Linderung durch die Entwertung anderer (vorübergehend) erreicht wird (Adler). Demselben Ziel kann die Bevormundung anderer und die ständige Suche nach der Oberhand dienen. Erneut stehen wir hier vor der schon auf S. 141 formulierten Erkenntnis: Das Lernziel «Kommunikationsfähigkeit» braucht ein Curriculum, das die seelische Gesundheit der Gesamtpersönlichkeit fördert. Mit anderen Worten: Selbsterfahrung und Selbstakzeptierung haben der Einübung eines neuen Verhaltens voraus- oder zumindest mit ihr einherzugehen.
    Zweitens, bei den geschilderten Verhaltensübungen haben wir implizit unterstellt, dass es ein situations- und personen- und beziehungsunabhängiges ideales Verhalten gäbe. Diese Unterstellung ist im fundamentalen Widerspruch zum Gedanken der «Stimmigkeit» (s. S. 137). Und wir haben unterstellt, dass dieses Idealverhalten sich nach denselben Lernprinzipien einüben lässt wie beim Tennisspielen: Vorbilder betrachten, Üben, Erfolgsrückmeldung. Leider haben wir eine kleine Komplikation übersehen: Dass zwischenmenschliches Verhalten nur dann seelisch sinnvoll ist, wenn die Außen- und Innenseite des Verhaltens leidlich übereinstimmen, d.h., wenn äußeres Gebaren durch ein entsprechendes inneres Zumutesein gedeckt ist. Ein «ideales» inneres Zumutesein lässt sich aber nicht nach dem erwähnten Lernmodell trainieren (was nicht besagt, dass die Möglichkeit einer Gefühlserziehung nicht bestünde). Jedenfalls liefen wir bei unserem Trainingskonzept Gefahr, eine konzeptgemäße Verpackung einzuüben, ohne die seelische Seite des Geschehens hinreichend zu berücksichtigen. Im Extremfall zeigten die Teilnehmer dann wertschätzendes, kompromissbereites, verständnisvolles Verhalten, das aber sehr unecht und regelrecht «antrainiert» wirkte, weil es durch die entsprechenden Gefühle und die innere Einstellung nicht gedeckt war. Aus heutiger Sicht hat eine Selbsterfahrung, die den Umgang mit den eigenen Gefühlen in den Vordergrund stellt, zunächst einmal Vorrang vor dem Einüben von Verhaltensweisen.
    Drittens haben wir folgende weitere Unterstellung gemacht: Wie sich jemand verhält, ist vor allem Ausdruck seiner Persönlichkeit. Folgerichtig haben wir am Individuum angesetzt und dem einzelnen Erzieher (Vorgesetzten, Mitarbeiter) ein Verhaltenstraining angeboten. Was wir dabei zu wenig im Blickfeld hatten, war die Beziehungsabhängigkeit des Verhaltens:
    Dass die Kommunikationspartner sich gegenseitig zu bestimmten Reaktionen verführen und dass vielleicht Herr A mir eine ganz andere «Persönlichkeit» entlockt als Frau B. Nach meiner Auffassung soll diese (auf S. 91ff. dargelegte) Sichtweise, die weniger auf den Einzelnen und mehr auf die Interaktionsregeln schaut, den individuellen Ansatz nicht ersetzen, wohl aber ergänzen.
    Schließlich viertens haben wir den institutionellen Faktor unterschätzt – jene gesellschaftlich vorgeprägte Bühne, auf der A und B sich mit auferlegten Rollenvorschriften begegnen. Wenn Lehrer sich gegenüber ihren Schülern lenkend und herabsetzend verhalten – und dies war der überwältigende empirische Befund von Tausch und Tausch in den 1960er und 1970er Jahren gewesen – dann ist der Grund hierfür nicht nur im autoritären Charakter und in der schlechten psychologisch-pädagogischen Ausbildung der Lehrer zu suchen. Das hieße, das Problem einseitig zu «personalisieren» und zu «psychologisieren» – der Vorwurf der «Institutionsblindheit» (Fürstenau 1969) trifft zu Recht. Denn tatsächlich legen die institutionellen Rahmenbedingungen z.B. der Schule genau das Lehrerverhalten nahe, das sich in den empirischen Untersuchungen gezeigt hat (ich sage «legen nahe» – ich sage nicht: «erzwingen»). Wie haben wir uns das vorzustellen? Die Schule bringt – gesellschaftlichen Erfordernissen entsprechend – die Schüler im Grunde in eine «unmögliche» Situation: Stunden um Stunden stillsitzen, fern vom Leben Wissen aufnehmen, das oft für die Lebenswelt der Schüler irrelevant ist, aber vom Lehrplan für alle vorgeschrieben ist. Die Nöte und Wünsche des Einzelnen sind bei der großen Klassenfrequenz weitgehend zurückzustellen; Zensuren halten dem Schüler seinen Wert oder Unwert vor Augen, wobei dieser persönliche Wert

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