Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation
brauchen wir Euch zur Zeit also auch nicht. Bitte vergnügt Euch, so gut Ihr könnt, und steht niemanden im Wege. Fragt uns bitte nicht, was Ihr machen sollt. Wenn uns etwas einfällt, rufen wir Euch – lasst uns bitte in Ruhe.»
(aus: DIE ZEIT v. 15.7.1977)
5.2
Die Etikettierung des Taugenichts
Fassen wir das Bisherige noch einmal zusammen: Das Selbstkonzept bildet sich als Folge von definierenden Erfahrungen. Bei diesen definierenden Erfahrungen handelt es sich überwiegend um explizite oder implizite Du-Botschaften («So einer bist du!»), die von wichtigen Bezugspersonen oder von Institutionen und gesellschaftlichen Einrichtungen ausgesendet werden. Da das Kind dazu tendiert, sich in Übereinstimmung mit seinem Selbstkonzept zu verhalten, haben die definierenden Akte somit eine Realität erst geschaffen. Diese Art von Erklärung wird auch und vor allem für die Entstehung von abweichendem Verhalten (Delinquenz) verwendet. Danach ist der «Taugenichts» ein Endprodukt von Etikettierungen , die zum Selbstkonzept «Ich tauge nichts» geführt haben. So lassen sich bei der Herausbildung einer kriminellen Karriere häufig folgende Schritte nachverfolgen (Tannenbaum 1938, dargestellt nach Brusten und Hurrelmann 1973):
1. Bestimmte Verhaltensweisen eines Kindes, die es selbst in seiner phänomenalen Welt als harmlos und lustvoll ansieht, werden von Erwachsenen als «böse», «schlimm» oder «lästig» tituliert. – Man beachte den Selbstoffenbarungsanteil bei derartigen Etikettierungen!
Dieser Selbstoffenbarungsanteil von etikettierenden Nachrichten wird von den Vertretern des Etikettierungs-Ansatzes besonders betont. Beispiel: Ein Lehrer bezeichnet ein Kind als «unsauber». Erfahren wir durch diese Nachricht etwas über das Kind oder den Lehrer? Über beide. Vor allem erfahren wir etwas über das Wertesystem des Lehrers, worauf er achtet, was er für wichtig und für sanktionsbedürftig hält.
2. Das Kind, das sich zunächst nur missverstanden und ungerecht behandelt fühlte, beginnt mit der Zeit, sich selbst umzudefinieren. Besonders dann, wenn die definierenden Erwachsenen nicht nur sein Verhalten, sondern generalisierend auch seine ganze Person als «schlecht» gebrandmarkt («stigmatisiert») haben.
3. Im Gefolge dieser Umdefinition zeigt das Kind Verhaltensweisen, die geeignet sind, die sich entwickelnde deviante Identität zu verstärken. Beispielsweise schließt es sich ähnlich «auffälligen» Altersgenossen an (Bildung einer «delinquenten Bande»). Die Mitglieder einer solchen Gruppe lernen nicht nur, sich mit dem Etikett «delinquent» abzufinden: Es bilden sich auch Normen heraus, die ein solches Etikett zur Auszeichnung erheben.
4. «Immer häufiger kommen die ‹Delinquenten› nun in Kontakt mit den offiziellen Sanktionsinstanzen, mit Vertretern der Sozialarbeit, der Polizei und der Justiz. Alle diese Instanzen wollen ihrem Selbstverständnis nach den in Gang gesetzten Prozess unterbinden, verstärken ihn aber in der Regel mit jedem weiteren Schritt.» (Brusten und Hurrelmann 1973, S. 32). Diese offiziellen Reaktionen schaffen neue Etikettierungen und verstärken das ansatzweise etablierte Selbstbild. Die betroffenen Jugendlichen werden «kriminalisiert». Für diese unbeabsichtigten Folgen ist der Begriff der «sekundären Abweichung» geprägt worden. Die in den Sanktionen implizit enthaltene Beziehungsbotschaft hat eine stärkere Wirkung als der in den Sanktionen auch enthaltene Appell «Lass es nach!» – Mit anderen Worten: Während die «primäre Abweichung» in mehr oder minder harmlosen Anfangstaten begründet liegt, resultiert die «sekundäre Abweichung» aus den etikettierenden Reaktionen der Umwelt. Ein paradoxer Effekt: Maßnahmen, die darauf abzielen, etwas zu unterbinden, rufen die zu unterbindenden Phänomene erst hervor.
Unter diesem Gesichtspunkt sind alle gut gemeinten Maßnahmen daraufhin zu überprüfen, ob nicht die damit verbundene implizite oder explizite Etikettierung Schlimmeres bewirkt, als die Maßnahme an Besserungen verspricht. Beispiel: Ein Schulkind wird als «gehemmt» dem Schulpsychologen zur Beratung überwiesen. Sicher kann die schulpsychologische Beratung eine Besserung ermöglichen. Auf der anderen Seite besteht aber die Gefahr, dass das Selbstkonzept um den Aspekt «Ich bin jemand, der zum Schulpsychologen muss», ergänzt wird und einer Außenseiterkarriere erst recht Vorschub leistet. Aus diesem Grunde bemühen sich moderne Beratungskonzepte,
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