Miteinander reden 03 - Das "Innere Team" und situationsgerechte Kommunikation
gleichermaßen erlaubt und moralisch unverfänglich. Soldat werden oder als Kriegsdienstverweigerer Ersatzdienst leisten: zugelassene und respektable Alternativen. Bei der Frage der Abtreibung ist das Selbstbestimmungsrecht der Frau und der Schutz des ungeborenen Lebens ein anerkanntes Wertedilemma. Von der richtigen (sanften) Geburt bis hin zum (humanen) Sterben: viele Alternativen, unterschiedliche Auffassungen und Bevorzugungen. Nicht, dass alle alles akzeptabel finden – im Gegenteil, an vielen Fragen scheiden sich die Geister und gehen heftig aufeinander los. Aber der gesellschaftliche Raum ist von einer Vielzahl von Stimmen gefüllt, und es kann nicht ausbleiben, dass sich dieses Stimmengewirr in mir niederschlägt, dass die Außenstimmen sich mit Eigenregungen verbinden und dass ich, wenn ich vor einer bestimmten Frage stehe und in mich hineinhorche, es mit dieser «inneren Pluralität» viel heftiger zu tun bekomme, als es unsere Urgroßeltern je hätten bekommen können.
Die gewaltige Informationsflut aus den Medien und den modernen Kommunikationstechnologien hat unter Wissenschaftlern und Journalisten (vgl. Ernst 1991) die Frage aufgeworfen: Was richtet das in der Psyche des Menschen an? Der amerikanische Sozialpsychologe Kenneth Gergen (1996) spricht von «Multiphrenie» und von einem «übersättigten» und «übervölkerten Selbst» als Folge der Vervielfältigung unseres Beziehungs- und Medienlebens. Er sieht den modernen Menschen vom Gewirr innerer (verinnerlichter) Stimmen überfüllt, welche bei jeder Handlung und Entscheidung einen kritischen und demoralisierenden Oppositionschor bilden (S. 136).
Ist damit der «Verlust der Identität des Menschen in der postmodernen Gesellschaft» (Ernst 1991, S. 22) besiegelt? Nein, zwar ist die Identitätsbildung mühsamer geworden, aber gerade das erfordert einen souveränen Umgang mit der inneren Pluralität – ein neues pädagogisch-therapeutisches Lern- und Entwicklungsziel. Die Sorge aber ist völlig zutreffend: dass ein Mensch im täglichen Bombardement der Nachrichten, Meinungen, Bilder sich nur dadurch vor Überflutung retten kann, indem er vieles überfliegt und kaum noch etwas an sich herankommen lässt – in dem Sinn, dass die Seele mit dem Aufgenommenen in Wechselwirkung tritt, es sich verarbeitend an-eignet und an-verwandelt. Seien Sie ehrlich, liebe Leserin, lieber Leser, Sie überfliegen dieses Buch doch auch nur!? Sie wollen «so ungefähr wissen, was drinsteht» – stimmt’s? Die Selbstbesinnung mit dem Bettler haben Sie auch ausgelassen, um schneller durchzukommen! Aber Ihnen gilt noch nicht einmal die Hauptsorge, denn Sie lesen immerhin noch Bücher, wo die Menge der aufgenommenen Informationen dem Tempo der Seele noch halbwegs entspricht. Wer aber nur noch überfliegt, ist bald auf der Oberfläche seiner Persönlichkeit überfüttert – und in seinem Kern unterernährt. So erscheint ein neuer Sozialtyp am Horizont: ein «entkernter Mensch» mit großer «Festplatte», auf der zusammenhang- und beziehungslos das tausendfältige Sammelsurium an Stimmen gespeichert ist, die er nun ebenso flexibel wie letztlich wahl- und hilflos wieder abrufen kann. Bei diesem «multiphrenen» Menschen bleibt es unentscheidbar, ob er wirklich eine «eigene» (das Wort passt kaum noch) Meinung vertritt oder ob er etwas aufgeschnappt hat (Ernst 1991).
Vielleicht gelingt es Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, nach dieser kleinen Predigt, sich bei der Lektüre wirklich Zeit zu gönnen («Abschalten können Sie woanders!»), so dass sich das Aufgenommene mit Ihrer Eigensubstanz verbindet und so zu etwas Neuem und Unvorhersehbarem führt, das dann wirklich Ihnen gehört. Vielleicht haben Sie bereits jemanden in sich, dessen Credo «Weniger ist mehr» lautet. Und der braucht, wegen der großen Zahl und Stärke seiner Gegenspieler, immer mal etwas Wasser auf seine Mühle.
1.4
Vorläufer und Wegweiser zum Modell des Inneren Teams
Zwar wird es Zeit, dass wir auf den Chef des Inneren Teams zu sprechen kommen, weil er es ist, der mit der ganzen sich zankenden Menge fertig werden muss. Aber zuvor möchte ich Ihnen noch schildern, wie ich auf die ganze Sache gekommen bin und in welchen Zusammenhängen sie mir wichtig geworden ist.
Gestalttherapeutische Erfahrungen
Der Grundgedanke war mir seit jeher vertraut, er ist Gemeingut wohl aller psychologisch-therapeutischen Schulrichtungen. Schon Freud hat die Seele als einen Kampfplatz dargestellt, auf dem eine
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