Miteinander reden 03 - Das "Innere Team" und situationsgerechte Kommunikation
womöglich «im Einklang mit sich selbst» …
Das «Wir» in der Gegenwart
Seit dem Viktorianischen Zeitalter, das die Kulisse für Stevensons Erzählung abgibt, hat sich einiges getan. Es gilt inzwischen als nicht mehr so schändlich, das «eigene Selbst zum Mittelpunkt der Gedanken und Taten» zu machen. Das Pendel hat so weit in Richtung Individualismus ausgeschlagen, dass vom «Zeitalter des Narzissmus» die Rede ist und wir besorgt fragen müssen, ob der Selbstverwirklichungsgedanke zur Selbstsucht verkommen und das Gemeinschaftsgefühl so weit verkümmert ist, dass die Frage «Was bringt mir das?» zur modernen Leitfrage eines reinen Ego-Kalküls geworden ist (Müller 1994).
Aber auch für den modernen westlichen Menschen ist, bei aller Betonung der Individualität, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder zu einem «großen Ganzen» immer noch eine seelische Schlüsselgröße, und sein Selbstwertgefühl speist sich nach wie vor überwiegend aus dem Nutzen, den er für die Gemeinschaft hat, und der Anerkennung, die er von ihr erhält. Der Mensch braucht, um leben zu können, einen Sinn : die tief empfundene Gewissheit, für etwas dazusein, was über ihn selbst hinausweist.
Das ist die Quintessenz aller humanistischen Psychologen, die den Menschen in den Tiefenschichten seiner Seele studiert haben. Genannt seien vor allem Alfred Adler (der Mensch leidet unter einer Neurose, wenn er übermäßig um seinen Selbstwert besorgt ist und in zwanghaftem Ehrgeiz die Erhöhung und Sicherung des Ichs auf Kosten des Gemeinschaftsgefühls betreibt; zum Beispiel 1973); Victor Frankl (die menschliche Existenz muß sich selbst transzendieren, das heißt sich in den Liebesdienst für etwas stellen, was nicht sie selbst ist – Dienst an einer Sache oder Liebe für eine andere Person; andernfalls droht ein die Seele beschädigendes existenzielles Vakuum; zum Beispiel 1975); Carl Rogers (der innere Kern der menschlichen Persönlichkeit ist sowohl selbsterhaltend als auch sozial; zum Beispiel 1979) und Ruth C. Cohn («Ich sehe einen Wert in mir selber nur dann, wenn ich mich nicht lediglich als Ich fühle, sondern als jemand, der Anteil hat am Weltganzen»; 1989, S. 169).
Allerdings ist das Wir für den modernen Menschen viel weniger klar vorgegeben, als dies zu Zeiten der Urhorde, des Stammes, der Ständeordnungen, des Vaterlands der Fall gewesen ist. Familie, Kommune, Arbeitsteam, Nation – «das Ganze», von dem ich ein Teil bin, ist heute vielfältig, brüchig, wechselnd. Speziell in Deutschland herrscht Skepsis vor: Ist nicht die Hingabebereitschaft des Einzelnen an das «größere Ganze» schamlos ausgebeutet worden? «Du bist nichts, dein Volk ist alles!»
Angesichts des Fehlens einer evidenten und ungebrochenen Wir-Erfahrung wird der Wir-Anteil ungreifbar, er droht sich im Diffusen zu verlieren. So kann im Seelenleben der greifbare Teil die Oberhand gewinnen: Das individuelle Selbst wird zum überwertigen Ziel aller Bemühungen. Was wir als gesteigerten Individualismus, als «Ego-Trip» beklagen und als «Werteverfall» brandmarken, liegt nicht eine zunehmende moralische Minderwertigkeit zugrunde, sondern eine zunehmende Ratlosigkeit des modernen Menschen, der nicht mehr weiß, wohin mit seiner Bereitschaft zur Hingabe und Solidarität. Nur dunkel spürt er, dass sein Egoismus eine seelische Notlösung darstellt, die ihm aber doch zum Schaden an seiner Seele gereicht, weil der Wir-Anteil darbt und sein Daseinsrecht nicht erfüllt sieht. Der Egomane bleibt, seelisch gesehen, eine überfütterte «halbe Portion» und ist ebenso von Depression bedroht wie sein Gegentyp, der allem und jedem dienstbar ist und Mühe hat, (auch einmal) dem eigenen Ich zu dienen (Cohn und Schulz von Thun 1994, S. 60f.).
Dem postmodernen Meschen ist auferlegt, sein Wir, seine Systeme, denen er angehören und sich vielleicht vorübergehend zugehörig fühlen will, selbst auszusuchen. Auch hier ist er gefordert, zum Baumeister seiner Identität zu werden, mit allen Unsicherheiten und Ängsten, die mit dieser Freiheit einhergehen, und mit allen Verirrungen, welche die Sehnsucht nach identitätsstiftender Zugehörigkeit mit sich bringen kann (zum Beispiel im Sektenwesen oder in neonazistischen Gruppierungen, wo sich das Wir-Gefühl auf das Deutschsein gründet und mit Fremdenhass einhergeht).
Weiterhin ist ihm heute auferlegt, das große Ganze auch und vor allem in der Menschheit auf Erden zu sehen. Nachdem unser «Dorf» kosmopolitisch
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