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Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)

Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)

Titel: Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedemann Schulz von Thun
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mir vor?› – ‹Welche meiner Bedürfnisse sind durch das Verhalten des Kindes bedroht?› – ‹Worin bestehen meine eigenen primären Empfindungen?› (S.150)

    Sosehr ich es für einen Fortschritt und geradezu für eine «kopernikanische Wende» der Erziehungspsychologie halte, den Erziehern statt einer Rezeptur für Kinderbehandlung eine Anleitung zur Selbsterforschung zu bieten, sosehr ich also dem ganzen Ansatz in seiner Grundtendenz zustimme, so möchte ich doch an dieser Stelle bezweifeln, ob Wut und Aggression immer «Gefühle zweiter Klasse» darstellen und ob es immer ein Zeichen der persönlichen Reife ist, wenn ich stattdessen die dahinter liegenden Gefühle erster Klasse zu entdecken und auszudrücken in der Lage bin. Sicher, es gibt immer einen inneren Anlass für die Aggressionen – ich fühle mich verletzt, übergangen, eingeschränkt, missbraucht oder sonstwie schlecht behandelt. Die Wut gegen den Auslöser dieses primären Schmerzes mag als unmittelbare Folgewirkung «sekundär» sein. Daraus aber abzuleiten, dass diese Impulse nun von sekundärer Bedeutung wären und ihr Ausdruck einer seelischen Verwechslung gleichkomme, halte ich für verfehlt. Natürlich kann ich mit der Zeit lernen, nicht gleich auf alles und jedes wütend zu werden, was meinen Vorstellungen von Sitte, Ordnung und gutem Geschmack widerspricht. Dies wäre wirklich ein Zeichen für persönliche Reife, den Toleranzspielraum für menschliche Andersartigkeit erweitert zu haben. In diesem Sinne kann ich vielleicht dahin kommen, dass meine Erwartungen an das richtige Benehmen eines Kindes im Restaurant flexibler werden und ich dann, wenn es durch die Beine der Gäste am Nachbartisch kriecht, vielleicht noch einen leichten Anflug der alten Verlegenheit spüre, aber nicht mehr zornig aufbrausen muss. Nun aber hat sich mein Gefühl verändert! Ob man diese durch einen inneren Prozess erreichte Gefühlsveränderung durch ein konzeptgemäßes Verhalten (Ich-Botschaft von Verlegenheit statt zornige Du-Botschaft) vorwegnehmen kann, halte ich für fraglich und in Situationen, in denen zwei Menschen akut aneinandergeraten, auch nicht für wünschenswert: Wenn ich von «akutem Aneinandergeraten» spreche, habe ich dabei zwei Phasen der Auseinandersetzung vor Augen:
    1. Die Phase des akuten Ausbruches , zum Zeitpunkt der unmittelbaren Betroffenheit, an dem sich die Gefühle ereignen.
    2. Die Phase der Nachbearbeitung , zum späteren Zeitpunkt, wenn sich die ausgebrochenen Gefühle gesetzt haben, aber vielleicht noch etwas «nachgeblieben» ist – und sei es nur der Wunsch, «darüber noch einmal zu reden». Dieser spätere Zeitpunkt kann unmittelbar nach dem Ausbruch sein, oder auch Stunden, Tage oder Wochen später. Beide Phasen haben ihren guten Sinn. Manche Paare tun sich schwer mit der Phase 2 («Wir haben hinterher nie mehr wieder darüber gesprochen!») und tragen u.U. das gefühlsmäßig nicht Abgeschlossene als ständiges Gepäck mit sich und belasten damit die Partnerschaft. Sie laufen auch Gefahr, nicht wirklich zu verstehen, was sich ereignet hat. Ein Gewitter kann reinigen, aber nicht immer auch klären. – Andere Paare wiederum neigen dazu, Phase 1 auszulassen, und fangen gleich mit der «Bearbeitung» dessen an, was noch gar nicht richtig «ausgebrochen» ist. Dies sind oft solche Paare, die von der Psychologie etwas Wertvolles gelernt haben (darüber reden zu können), es aber an der falschen Stelle einsetzen: Die Sprache der Reflexivität gehört nicht an den Ort des Ausbruches, nicht in die Niederungen des Getümmels, sondern auf den Hügel, der etwas Abstand und Übersicht bietet:

    Abb. 27:
    Die zwei Phasen des Aneinandergeratens
    So scheint mir die Empfehlung der Humanistischen Psychologie, anstelle der zornigen Du-Botschaft den «dahinter liegenden» Ich-Zustand auszudrücken, einem Schönheitsideal nachzuhängen, das der psychischen Reihenfolge nicht entspricht. Es trifft zu, dass der Mensch ein seelisches Schichtenwesen ist: «hinter» mancher Wut ist tiefer Schmerz, Traurigkeit und Sehnsucht nach Angenommensein; genauso ist, wie jeder Psychotherapeut weiß, «hinter» mancher Traurigkeit ein ordentliches Quantum an Wut verborgen. Und es ist wesentlicher Teil des therapeutischen Vorgangs, mit Einfühlung und viel Geduld Schicht um Schicht abzutragen und emotional durchzuarbeiten. Dies kann sich auch in tiefen Gesprächen spontan ergeben. Zum Beispiel erzürnt sich in einer Wohngemeinschaft jemand darüber, dass der

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