Mithgar 10 - Die schwarze Flut
die Festung in all ihrer Mächtigkeit zu sehen. Grau war sie und massig, große, klobige Granitbauten mit hohen Fenstern und ausladenden Türmen. Zinnen und Mauerzacken krönten die Brustwehren; steinerne Vorhänge schützten versteckte Wallbänke, auf denen bei einem Angriff Verteidiger stehen würden. Ehrfurchtsvoll staunten die Wurrlinge ob dieser nie gesehenen Macht, und Tuck fragte sich, was sein Vater, der Steinmetz, wohl sagen würde, wenn er hier wäre.
Schließlich kamen sie zur fünften und letzten Mauer, dem letzten Schutzwall vor der Burg selbst, und das gewaltige Haupttor war geschlossen. Sie ritten jedoch nicht zu diesem Portal, sondern stattdessen in nördlicher Richtung an dem Bollwerk entlang, denn dort befand sich die alte Festung, die mittlerweile dem nördlichen Schutzwall einverleibt war.
Als die Kompanie langsam um eine Bastion an der nordwestlichen Ecke herumritt, kam ein schneidender Wind auf, und die Jungbokker schlugen ihre Kapuzen hoch. Doch sie hörten trommelnden Hufschlag, und auf dem Hang unterhalb von ihnen sahen sie einen jungen Mann auf einem galoppierenden Schlachtross, der einen Speer führte. Er stürmte auf ein schwenkbares Ziel in Menschengestalt zu, mit einem hölzernen Schild auf einer Seite und einem ausgestreckten Arm mit Streitkolben auf der anderen. Zonk! Die Lanze wurde mit der vollen Wucht des rennenden Schiachtrosses in den Schild getrieben, und die Zielattrappe wirbelte unter dem Aufschlag herum und ließ den hölzernen Kolben auf den Kopf des vorbeireitenden Kriegers zusausen. Doch der junge Mann duckte sich, sein Pferd trug ihn geschwind davon, und zurück blieb die wirbelnde Attrappe, deren Keulenkopf nichts als leere Luft durchschnitt. Schließlich hörte das Kreiseln der Zielfigur auf, der Drehzapfen rastete in eine flache Rille ein, und die Silhouette stand wieder im rechten Winkel zur Kampfbahn. Erneut stürmten Ross und Reiter auf donnernden Hufen darauf zu. Plonk! Der Speer krachte in den Schild, der Kolben rotierte und schlug ins Nichts.
Ein kleines Stück weiter oben am Hang stand ein Pavillon, wo mehrere Männer um einen Tisch saßen; gelegentlich schauten sie gestikulierend nach Norden, deuteten und stritten. Zonk! Das Pferd und der Krieger rasten über den Hang. Die Wurrlingskolonne war inzwischen unter den winterkahlen Ästen einer uralten Eiche angelangt, und ihr Führer sagte: »Halt, steigt hier ab. Wer von euch ist der Hauptmann? Gut! Komm mit mir.«
Patrel saß ab und gab Tuck und Danner ein Zeichen, ihn zu begleiten. Die drei bogenbewehrten Wurrlinge folgten dem Mann zum Pavillon, während die beiden Gruppen zurückblieben, die riesigen Brustwehren des gewaltigen Nordwalls bestaunten und gedämpft miteinander sprachen. Zonk! Der Speer sauste ins Ziel. Als sie sich dem Zelt näherten, sah Tuck, dass der Tisch, um den die Männer saßen, mit Karten und Schriftrollen übersät war. Manche lagen flach gestrichen und mit Dingen beschwert da, die gerade zur Hand gewesen waren - ein Helm, ein Dolch, ein kleines, silbernes Horn, eine Tasse. Wieder zeigten einige Männer auf die Karten, während andere nach Norden blickten, und sie schienen sich über irgendetwas uneins zu sein. Tuck sah ebenfalls nach Norden. Von hier, hoch oben auf dem Berg, konnte er eine endlos weite Schneefläche auf der Ebene unter sich überschauen; weit hinten am Horizont hing eine niedrige, dunkle Wolkenbank.
Die Jungbokker waren unbemerkt an die Gruppe herangetreten und blieben auf ein Zeichen des Wachmannes stehen. Darauf begab sich der Führer zu dem Krieger am Kopfende des Tisches, einem großen, kräftigen Mann, dessen schwarzes Haar mit Grau durchsetzt war und der ei nen kurz geschnittenen Silberbart trug. Der Hauptmann der Wache sprach ein, zwei Worte, worauf Marschall Vidrons Blick kurz über die drei Kapuzenträger huschte und dann hinüber zu den vierzig übrigen unter der Eiche. Plonk! Die Attrappe kreiselte wild unter dem Aufprall, und die Keule hieb in die Luft.
»Pfui!«, brummte Vidron nach einem neuerlichen Blick auf das kleine Trio. »Hals mir doch keine Kinder auf!«
»Kinder? Kinder?«, schrie Patrel mit zornbebender Stimme. »Danner! Tuck! Pfeile heraus!« Und im Handumdrehen hatten die drei Pfeile an ihre Sehnen gelegt. »Halt!«, rief einer der Männer, zog sein Schwert und trat zwischen Vidron und die Jungbokker.
Patrel aber sah sich verärgert um und kommandierte: »Die kreisende Keule!« Dann fuhr er herum und schoss auf das sich drehende Ziel.
Weitere Kostenlose Bücher