Mithgar 10 - Die schwarze Flut
im letzten Wagen.« Danner rappelte sich hoch, und gemeinsam sahen die drei Laurelins Wagen langsam hinter der fernen Kuppe verschwinden. Und die weiße Ebene lag reglos und leer vor ihnen.
Später standen Tuck und Patrel erneut auf der nördlichen Brustwehr, wo sie den Dusterschlund unausweichlich näher kommen sahen. Wiederholt hatten sie die Ränder der schwarzen Wand intensiv mit den Augen abgesucht, aber nichts Bemerkenswertes entdeckt, während das Dunkel sich südwärts über die Ebene auf sie zuschob. Tuck hoffte insgeheim, Fürst Galens Truppe über die Schneefläche auf die Feste Challerain zureiten zu sehen, denn er sehnte sich danach, den Prinzen kennenzulernen, der das Herz von Prinzessin Laurelin gewonnen hatte. Doch niemand kam, und wie Laurelin begann auch Tuck zu fürchten, dass etwas nicht in Ordnung war. Er sagte sich, dass Haddon, der Bote, noch vor weniger als einem Tag Fürst Galen lebend und wohlauf gesehen hatte. Ist wirklich erst so wenig Zeit vergangen?, fragte er sich. Weniger als ein Tag, seit wir ein großes Geburtstags fest gefeiert haben? Ach, es scheint, als läge diese glückliche Zeit Jahre zurück und als drohe diese näher rückende Wand schon immer, und nicht erst seit einem einzigen, trostlosen Tag.
»Ai-oi!« Patreis Ausruf der Verwunderung unterbrach Tucks Gedankengang. »Sieh mal, Tuck, dort am Fuß des Dunkels. Was ist das?«
Lange spähte Tuck hinab, doch die Entfernung und das schwindende Licht der untergehenden Sonne hinter den Wolken ließen ihn nicht klar sehen. »Es sieht aus, als ob... als ob der Schnee entlang des Fußes der schwarzen Wand brodeln würde.«
»Ja«, stimmte Patrel zu. »Brodeln oder sich schnell drehen, ich kann es nicht genau sagen.«
»Er wirbelt, glaub ich, jetzt, da du es sagst«, bestätigte Tuck. »Aber was könnte das verursachen? Meinst du, es könnte ein Wind sein?«
Patrel brummte nur etwas, die Nacht brach herein, und sie sahen nichts mehr. Müde marschierten die Wurrlinge schließlich in ihr Quartier, nachdem sie als Burgwache abgelöst worden waren.
Am folgenden Morgen war die große schwarze Wand weniger als zehn Meilen entfernt und rückte immer näher. Jedes Mal, wenn Tuck das drohend aufragende Dunkel ansah, stockte ihm der Atem, und er zweifelte an seinem Mut. Werde ich stark genug sein, wenn es über diese Wälle hereinbricht, oder werde ich schreiend davonrennen? Nun konnten sie auch erkennen, dass ein heftiger Wind auf der gesamten Vorderseite des Dusterschlunds blies, als würde die Luft vor der heranrückenden Wand gewaltsam hergeschoben oder umgepflügt. Wie ein sturmgepeitschter Ozean, der sich an einer riesigen schwarzen Mole bricht, wurden brodelnde, wirbelnde Schneewolken hoch in die Luft geschleudert. Im Dusterschlund selbst stieg die Schwärze von der Ebene auf, sie war am dunkelsten in Bodennähe und wurde nach oben hin immer blasser. Doch erstreckte sie sich weit in den Himmel, bis man sie kaum mehr sah, vielleicht eine Meile oder höher. Und obwohl es ein klarer Tag war und die Sonne golden schien, sah es aus, als würde ihr Licht verzehrt, wenn es auf die schwarze Wand traf, verschluckt von einem finsteren Ungeheuer.
Aurion, Gildor, Vidron und der Kriegsstab kamen häufig an die Brustwehr, doch weder vermochte ihr Blick den wirbelnden Schnee oder das aufragende Dunkel zu durchdringen, noch tauchte irgendetwas aus der tiefschwarzen Wand auf. Die Sonne stand im Zenit, als der Dusterschlund zuletzt den Berg Challerain erreichte. Tuck stand mit verschränkten Armen auf der Brustwehr und beobachtete angstvoll, wie die schwarze Wand heranraste. Vor ihr stürmte der heulende Wind, und mit ihm kam der wirbelnde Schnee. Die Burgwache wurde durchgeschüttelt und geohrfeigt von dem kreischenden Sturmwind am Rand des Dusterschlunds. Tuck zog den Elfenumhang fest um die Schultern und die Kapuze über den Kopf, aber noch immer trieb es ihm den Schnee in die vom Wind tränenden Augen. Die Sonne begann sich mit dem Heranstürmen der schwarzen Flut zu verdüstern, als würde eine finstre Nacht hereinbrechen, und doch war es gerade Mittag. Das Sonnenlicht schwand rasch, als der Dusterschlund die Feste Challerain verschlang; binnen eines Wimpernschlags war aus der Dämmerung tiefe Nacht geworden, obschon die Sonne hoch am Himmel stand.
Das schrille Heulen des Windes schwächte sich zu einem fernen Rauschen ab, als die schwarze Wand weiterzog, und dann verstummte auch dieses. Der aufgewirbelte Schnee senkte sich lautlos wieder
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