Mithgar 15 - Drachenbann
seltene Ausnahmen benötigte man jedoch den Gesang und das Ritual der Schritte, denn vollkommen gleiche Orte zwischen dem prachtvollen, würdigen Adonar und dem jungen, ungezähmten Mithgar waren sehr selten, weit verstreut und größtenteils unbekannt. Also folgte Riathas Übergang dem traditionellen Ritus, dem uralten Gesang und den genauen Bewegungen, die ihren Geist in diesen Zustand versenkten, der erforderlich war, den Übergang zu bereiten, ins Dazwischen zu gehen.
Jetzt war sie in Mithgar.
Obwohl es noch früh war, die Zeit des Dazwischen, hätte Riatha nicht nach Adonar zurückkehren können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Denn die Reisen nach Mithgar mussten im Morgengrauen angetreten werden, wohingegen ein Übergang nach Adonar nur in der Dämmerung vollzogen werden konnte. Dämmerritt, Düsterritt; es gab einen uralten Segensspruch bei den Elfen von Mithgar: Geh mit dem Zwielicht, mit dem Morgengrauen kehr zurück.
Riatha dachte jedoch nicht an diesen uralten Spruch, als sie aus dem Nebel auftauchte und in den hellen Morgen Mithgars ritt. Stattdessen betrachtete sie das wilde Dickicht, lauschte dem unbekümmerten Zwitschern der Vögel auf dieser Welt, betrachtete die unbekannten Formen und Farben, die durch die Dämmerung zuckten, während hier und dort ein Tier verstohlen durch das Unterholz huschte oder auf einem Zweig über ihr dahinlief. Wild und ungezähmt, das bist du wahrlich, Mithgar.
Sie saß im Sattel und sog die Luft, das Licht, die Geräusche und den Anblick des Waldes, des Feldes und des Himmels über ihr ein. Es war ihr alles neu und dennoch seltsam vertraut. Schließlich wendete sie ihr Pferd nach Norden und murmelte eine Aufforderung. Schatten verfiel sofort in einen leichten Galopp. Als die Sonne aufging, lachte ihr Herz, denn jetzt war sie in Mithgar und ritt ihrem Bruder entgegen, Talar, und seiner Gemahlin, Trinith, die bei den Elfen vom Darda Immer lebten, dem Lichtwald auf Atala.
Ein Jahrhundert verstrich, vielleicht sogar mehr, denn Zeit und Elfen sind einander Fremde. Jahreszeit folgte auf Jahreszeit, ohne dass sie sie zählten, und so flogen die Jahre nur so vorbei. In diesen Jahrzehnten blieben Riatha, Talar und Trinith im Lichtwald und lernten die Kunde der Schnellen Hilfe, der Heilkräuter und des Heilens.
Dann kam der Tag, an dem Talar und Trinith nach Duellin gingen, etwa zehn Werst entfernt am östlichen Strand von Atala gelegen. Talar wollte die Kunst des Schwerteschmiedens erlernen, bei dem legendären Dwynfor selbst, während sich Trinith das Harfenspiel anzueignen wünschte. Riatha dagegen übernahm eine andere Pflicht. Sie stand auf den Hängen des Karak Wache, während der Feuerberg schlummerte, und suchte nach Anzeichen dafür, dass er erwachte, falls er es denn je tat.
Die Jahreszeiten wechselten sich weiter ab, gelegentlich besuchte Riatha ihren blonden Bruder und seine Frau, die ebenholzschwarzes Haar hatte, und wurde manchmal von ihnen besucht. Des Abends scharten sie sich um die Herde des Darda Immer, oder um die von Duellin, wo sich Trinith mit anderen Harfenspielern zusammensetzte und die Elfenweisen sang, die bis zum Anfang der Zeiten selbst zurückreichten.
Doch schließlich begann eine Jahreszeit, in welcher über das Meer hinweg die Insel eine Kunde erreichte, dass sich die Rucha in großer Zahl im Grimmwall sammelten, dem Gebirge im Osten von Mithgar. Etwas war im Gange, und es wurden Krieger benötigt.
Ein letztes Mal reiste Riatha zum Seehafen von Duellin, verabschiedete sich von Talar und Trinith und stach mit dem Ziel Caer Pendwyr in See. Ein Schiff der Arbalinen trug sie und ihren Hengst rasch über den Westonischen Ozean durch die Avagon See in das Land Pellar. Und in seinem Rückengurt begleitete sie Dünamis.
Dann begann der Große Krieg.
Riatha zog an der Seite der Elfen vom Darda Galion, dem mächtigen Elfenhort neben dem Grimmwall, in diesen Kampf.
Wütend waren die Schlachten, und sie dauerten lange. Während dieser Kämpfe gab es hohe Verluste und große Trauer. Und viele Todes-Sermone, diese letzte Kunde, die ein sterbender Elf im Augenblick seines Todes auf irgendeine Art einem anderen seines Volkes sendet. Der Zeit und der Entfernung trotzend erreicht er den, für den er bestimmt ist, und erschüttert den Empfänger mit dem Wissen, dass ein geliebter Gefährte starb, einer, dessen Leben eben erst begonnen hatte.
So fürchterlich auch der Tod eines einzelnen Elfen sein mag, das Dahinscheiden von Hunderten ist verheerend,
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