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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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sein Junggesicht erhalten und dazu so teigig werden lassen.
    So geht eine der kruden Theorien über den Wiesengrab. Eine andere sagt, er heiße eigentlich Wiesengrund und sei Jude. Früher sei er Viehhändler gewesen, weit drin im Gebirg. Dort hätte ihn ein Erbhofbauer, dem er vor der Nazizeit viel Geld geliehen hatte, damit der wieder seinen abgebrauchten Hof sanieren konnte, zwölf Jahre lang auf einer hochgelegenen Alm versteckt gehalten. Die Hütte lag der Schneegrenze sehr nah, und weil er keiner Arbeit nachging, um nicht von Nachbarn oder Wanderern entdeckt zu werden, sei er durch Kälte und durch Müßiggang so jung geblieben. Warum der Bauer sich nicht seiner Schulden durch Verrat entledigt hat, wird so von dieser Theorie erklärt: Der Jude war Zeuge geworden, wie der Bauer seinen älteren Bruder, den ursprünglichen Hoferben, bei einem gemeinsamen Almabtrieb eine steile Felswand hinunterstieß. Dem Bauern war aus diesem Grund nach dem Krieg tatsächlich der Prozess gemacht worden. Aber nicht der Jude hatte ihn verraten, sondern einer seiner Nachbarn, ein früherer Nazifreund des Bauern, vor dem er sich im Suff einmal mit der Wahrheit gebrüstet hatte und der so an des Brudermörders Grundstücke zu kommen hoffte.
    Krude Theorien, gegensätzlicher nicht ausdenkbar, doch hielten sie sich lang genug und das Rätsel um den Wiesen grab so lang am Leben, bis seine Ziele Wirklichkeit geworden waren.
    Auch im Seewirtshaus gab es verschiedne Meinungen zu ihm. Dass er ein Jude sei, der Wiesengrab, davon war die Philomena überzeugt. Schau dir nur seine Augen an, sagte sie zum Seewirt, so stechend, wie die schaun, schaut nur ein Jud. – Ach so ein Schmarrn, gar keine Spur!, eiferte der Seewirt gegen sie. Gerade an den blauen Augen kannst du sehen, dass er wahrscheinlich Arier, auf keinen Fall ein Jude ist. Und wo hätte der denn seine blonden Haare her, wenn er ein Jude wär. Nein, nein! Das ist der klassische SS ler, das sag ich dir. Solchene wie den haben sie bei der SS gebraucht, jetzt glaub es nur, gerade diese schmierigen Pedanten warn im Lebensborn die Samariter – auf Deutsch: Die Samenritter.
    – Red doch nicht immer so Abscheuliches daher, empörte sich die Philomena und blieb erst recht bei ihrer Meinung. Gerade weil er so was Schmieriges, so eine Hinterlist in seinen Augen hat, so einen Judenblick, sagte sie, hätte der bei der SS nie seinen Fuß auf einen Tritt gebracht. Die hatten eine Haltung. Aber der doch nicht.
    So ging es hin und her. Erst ein späterer Prozess, den einer von den Stanker-Söhnen gegen den Verwalter führte, um sein Erbteil einzuklagen, brachte an den Tag, dass es sich beim Wiesengrab um einen Kleinhochstapler handelte, einen ganz gewöhnlichen, einer Häuslerbrut im Oberpfälzischen entstammend, der im Krieg Soldat gewesen war, wie die meisten anderen auch. Sein jung gebliebenes Gesicht, so ein ärztlicher Befund, erkläre sich aus einem seltnen Gen – wie beim jung gebliebnen Körper des verstorbenen von Zwittau Fräuleins auch.
     
    Der Wiesengrab grüßt den Seewirt reserviert. Er kann ihn nicht leiden. Er kennt seine Gegner, er weiß, dass die Bauern ihn durchschauen. Aber er weiß auch, dass der Mann in ihm seine Wirkung auf die Frau in Kirsten schon getan hat. Jetzt muss er sie sich noch gefügig machen. Sie hat gelernt, ihn zu lieben. Bald wird sie lernen, ihn zu fürchten.
    Er tritt vor sie hin, ganz ohne Scheu vor ihr und vor dem Gast, und küsst sie lang und fest und direkt auf den Mund, dass sie vor Scham und Glück errötet wie ertappt. Auch dem Seewirt nimmt die Scham vor so viel Würdelosigkeit den Atem. Mit gesenktem Kopf geht er hinaus. Nur die Fließen des Küchenbodens bleiben ihm im Gedächtnis haften, noch tagelang: rötlich grau, mit ungleich gebogenen weißen Ritzen, wie Kreidegekritzel. Früher ist ihm das nie aufgefallen.
    Und so war es dann: Die Kirsten hat den Wiesengrab genommen, der Seewirt hat den Trauzeugen gegeben, und schon ein viertel Jahr später wurde das erste Hanggrundstück bebaut. Der Seewirt war unter den drei Gemeinderäten, die bei der Sitzung dagegen gestimmt haben. Der Bürgermeister und vier andere waren dafür. Bald haben weitere, am Wirtschaftswunder gesundete Fremde sich ihr neues Haus auf altem Stankergrund gebaut. Der Wiesengrab hat sich einen gebrauchten Mercedes gekauft, in Dunkelblau; die Kirsten war einsilbig, wenn ihr der Seewirt mal aus Versehen über den Weg lief; ihr Gesicht sah nicht mehr dümmlich aus, dafür begann es

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