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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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Nachkommen zeugten, machten sich lustig über alles, was Ordnung und Gesetz und für deren Kontrolle zuständig war. Der Staat schien eine Lachnummer geworden zu sein.
    So jedenfalls stellte es sich aus der Ferne dar. Und Seedorf lag immer noch in einer gewissen Ferne zu den Zentren dieser Ungehörigkeiten.
    An seinen Kindern konnte der Seewirt noch keine Ansteckung ausmachen. Er beobachtete genau, aber nicht misstrauisch. Dafür war sein Vertrauen in die gut beleumdeten Schulen und die ordensgeführten Internate, in denen er die Kinder untergebracht hatte, zu groß. Die dicken Mauern der Klöster, hinter denen im christlichen Geist erzogen und die Grundlagen für das zukünftige Leben als gute Staatsbürger gelehrt wurden, die werde der studentische Ungeist aus den Städten, der seinen fauligen Ursprung ganz bestimmt im immer mehr um sich greifenden amerikanisierten Lebensstil hatte – so sah es jedenfalls der Seewirt –, nicht durchdringen. Da war er sich sicher. Umso unerklärlicher war es für ihn, dass er nach und nach bei seinen Kindern ein Erlahmen der Gottesfürchtigkeit feststellen musste. Wenn sie vom Internatsleben erzählten, waren Spöttereien und Respektlosigkeiten über Ordensbrüder und Klosterschwestern eingesprenkelt. Keines der Kinder beteiligte sich mehr am Tischgebet. Wenn er und seine Frau und die Schwestern dieses Ritual ausübten, griffen die Jugendlichen bereits nach Gabel und Messer und füllten ihre Teller. Überheblich und herablassend sahen sie auf die Betenden und würzten deren Frömmigkeit mit fast schon gotteslästerlichen Witzeleien. Dabei strahlten sie eine solche Sicherheit und Souveränität aus, dass den Seewirt Kälteschauer durchfuhren und ihm die mahnenden Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, im Mund stecken blieben: Er traute sich nicht mehr, die eigenen Kinder zurechtzuweisen. Seine Schwestern waren von Semis Schmeicheleien bereits so vereinnahmt, dass auch sie durchgehen ließen, was sie bei anderen als mangelnde Gottesfurcht verdammt hätten. Der altehrwürdige Küchentisch, an dem Generationen ihr täglich Brot verzehrt und Gott dafür gedankt hatten, der hatte sich verkehrt und war zur gottvergessenen Fressstatt verkommen. Das Schlimmste für den Seewirt aber war: Seine Kinder gingen nicht mehr zur Kirche.
    Das wöchentliche Kirchgangsritual, mit dem durch das Tragen der Festtagskleidung Gott und der Glaube geehrt und der intakte Zustand der eigenen Familie der Dorföffentlichkeit vorgeführt und damit die eigene gesellschaftliche Stellung im Dorf immer wieder aufs Neue gefestigt wurde, dieses stolze Ritual war für den Seewirt mit einem Mal zum demütigenden Spießrutenlauf geworden. Wenn er, nur noch begleitet von Frau und Schwestern, aber plötzlich ohne die Kinder, seinen Platz in der Kirchenbank oder auf der Empore einnehmen musste und die Köpfe der anderen Kirchenbesucher sich umwandten und mit ihren neugierig-anzüglichen Blicken den aufgelösten Zustand der Seewirtsfamilie registrierten und kommentierten, dann fühlte er sich wie Jesus auf dem Kreuzweg zum Kalvarienberg: Dessen Glaube wurde umso fester, je derber die grölende Menge ihn verspottete. Überall, wo einer fest in seinem Glauben ruht, ist Golgatha, dachte der Seewirt und fühlte sich wieder kräftig und fest.
    Doch wenn er dann gegen elf Uhr vormittags von der Kirche nach Hause kam und sehen musste, wie seine eigenen Kinder gerade erst das Bett verließen, oft schon im Gefolge von Mitschläfern und Mitschläferinnen, obwohl sie noch gar nicht verheiratet waren, wenn sie sich am Küchentisch breitmachten und mit einem unfreundlich gemurmelten Guten-Morgen-Gruß ihren Kaffee schlürften und die ganze Küche nach verdunstetem Alkohol roch, wie eine ungelüftete Bierstube, dann erfuhr er das wie einen gezielten Schlag ins Gesicht und als gewollte, schmerzhafte Demütigung nicht nur seiner selbst, sondern ebenso seines Glaubens und der christlichen Werte, denen er verpflichtet war. Er spürte es so, als würden ihm seine tiefsten Überzeugungen streitig gemacht und sein ganzer Lebensraum enteignet werden, denn er konnte sich dagegen nicht mehr wehren. Er erlebte den überlegenen Behauptungswillen seiner Kinder und ihre Durchsetzungsstärke, unter der Zeugenschaft ihm vollkommen fremder junger Menschen, wie einen Besatzungsterror. Er kam sich vor wie kurz nach dem Krieg, als die Amerikaner alle Angelegenheiten in demonstrativer Selbstgerechtigkeit vorantrieben und regelten, sogar die privaten, und

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