Mittelreich
damals noch junge Mare diesen Spruch aufgehängt hatte, und zwar genau schräg gegenüber der Tür, hinter der dieser rabiate Knecht damals wohnte, so dass er beim Verlassen seiner Kammer immer und sofort als Erstes diese kleine Tafel im Blickfeld haben musste.
Dieses Zimmer war nun, seit schon fast wieder dreißig Jahren, die Unterkunft des Tieren gegenüber ausgesprochen freundlich eingestellten Viktor Hanusch geworden. Der Spruch jedoch blieb weiterhin die ganzen Jahre über an seinem Platz hängen, bis er eines Tages plötzlich, und zwar etwa in der Mitte der Siebzigerjahre, verschwunden und durch einen neuen ersetzt worden war. Und obwohl sichtlich mit Mühe in verstellter Schrift geschrieben, konnten seine Kinder sehr wohl die Handschrift des inzwischen fast siebzigjährigen Seewirts ausmachen:
Was war geschehen?
Der Seewirt hatte sich eine Woche nach jenem Schlachttag, der zugleich zum letzten seiner Art im Seewirtshaus geworden war, im Rotkreuzkrankenhaus in der Hauptstadt einer Hüftoperation unterzogen, die zugleich eine der ersten ihrer Art war. Ihm zur Seite bei dieser Operation – die eher ein mutiger Blindflug in eine medizinische Zukunft genannt werden durfte als eine ärztliche Hilfeleistung im Sinne des hippokratischen Eides – stand das Glück des braven Mannes, das ihm, wider Erwarten, zu einer gelungenen Operation verhalf.
Nach diesem Eingriff begann für den Seewirt noch einmal ein Aufbruch – es war der zweite unerwartete in seinem Leben – wenn man seine Geburt als naturgegebenen Einstieg in dieses Leben einmal außer Acht lässt.
Das schlagartige Ausbleiben der schier unerträglichen Schmerzen, die ihn fast drei Jahre lang gequält hatten, bewirkte bei ihm eine Euphorie, die er in seinem Alter nicht mehr für möglich gehalten hatte. Er stürzte sich noch einmal auf alles, was früher Arbeit für ihn gewesen war. Er suchte, wo es nur ging, das Gespräch mit den Gästen und berichtete ihnen, ob sie es hören wollten oder nicht, mit emphatischen Worten von seiner geglückten Operation. Er dirigierte den Kirchenchor zu bisher nie erreichtem harmonischen Klang. Er kaufte ein neues, größeres Auto mit der Beschleunigung beinahe eines Sportwagens – und er ließ das gesamte Seewirtshaus renovieren. Es wurden eine zentrale Heizung und fließendes Warm- und Kaltwasser installiert, die Gästezimmer bekamen neue Schränke und Betten, die Gasträume wurden mit neuer Bestuhlung und neuer Beleuchtung noch einladender, als sie zuvor schon waren (oder noch abstoßender – je nach persönlichem Geschmack und zeitüblichem, ästhetischem Allgemeinempfinden), und quasi als Prunk stück zwischen den beiden Gasträumen glänzte nach Abschluss der Arbeiten, dekoriert von polierten Gläsern hinter altmodernen Butzenscheiben, eine nagelneue Schänke, die in ihrem vorgefertigten, gastronomietauglichen Format von Fachleuten der Brauerei dem Seewirt als sehr beliebt bei Gästen und ausgesprochen praktisch für das Personal aufgeschwätzt worden war. Und mitten auf dem Schanktisch, als Krönung seiner umfassenden Funktionalität, protzte, wie das erigierte Glied eines neuen, furchtbar fruchtbaren gastronomischen Zeitalters, der chromummantelte Zapfhahn mit den Insignien der Brauerei: HACKER-PSCHORR .
Die Zeit der Holzfässer und der Flaschenwirtschaft war zu Ende. Der verchromte Zapfhahn begann seinen Siegeszug. Er hatte drei Hähne, aus denen drei verschiedene Biere schäumten: Hell, Dunkel – und das moderne Pils.
Mehr war nicht drin. Mehr konnte er seinen inzwischen erwachsenen Kindern nicht bieten, um sie weiterhin ans Elternhaus zu binden und ihnen den Eintritt in ein sorgenfreies Erwerbsleben zu ermöglichen. Dass trotzdem alles anders kam, konnte seine Schuld nicht gewesen sein. So redete er sich immer wieder zu in den Jahren des seelischen Leids, die die letzten seines Lebens wurden. In diesen Gedanken fand er, wenn auch nur geringen Trost in diesem Leid. In ihnen richtete er sich ein, wenn alles andere um ihn herum zu zerbrechen schien.
Man lebt dahin und macht unglaubliche Fehler, ohne es zu merken, dachte er grüblerisch, man tut sein Bestes und macht doch alles nur falsch. Ich habe ein Mieterverhältnis zu meinen Kindern. Ich halte ihnen alle meine Räume offen, sie aber leben nur nach draußen. Sie tun, als könnten sie mir jederzeit kündigen. Ich hätte strenger sein müssen mit ihnen. Dabei bräuchten wir einander doch schnörkellos. Denn jeder Schnörkel ist nur der Ausdruck des
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