Mittelreich
Misstrauens gegenüber dem Notwendigen. Ich bin durch und durch gradlinig. Ich verstecke mich hinter nichts. Und jetzt geht die Zukunft einfach aus.
Seit einiger Zeit war er ziemlich verzweifelt. Sein neues Aufleben hatte nur ein paar Jahre gedauert.
Gleich nach der Operation – der Zeitpunkt war zufällig und stand in keinerlei Zusammenhang mit dieser – wurden ihm die immer wertvoller gewordenen Seewiesen enteignet. Jene Sumpfwiesen, die im Süden von Seedorf als sogenannte Streuwiesen das ganze Jahr über unberührt und brach dalagen, direkt am Ufer des Sees, nur von einer Hauptverkehrsstraße von diesem getrennt, und auf denen, wie prall gefüllte Eiterbeulen, die fettesten Sumpfdotterblumen standen weit und breit. Jene Wiesen, die nur einmal im Jahr, im frühen Herbst, gemäht und deren Ernte als nahrungsarmes Heu zur Einstreu für die Kühe eingefahren wurde, die wurden staatlicherseits sozusagen konfisziert. Diese einst wertlosen Wiesen, die für die Familie einen hohen ideellen Wert besaßen, aber als landwirtschaftliche Nutzflächen eher unbrauchbar waren, hatten im Lauf der letzten zwanzig Jahre als Seegrundstücke immer mehr an Attraktivität gewonnen. Es gab wieder reiche Leute im Land, die solche Seegrundstücke suchten, um in sie ihr Geld zu investieren oder aber gleich ihren Wohn- oder Alterswohnsitz darauf zu zementieren. Für den Seewirt waren diese Wiesen so zu einem potentiellen Verkaufsobjekt geworden, auf das man zurückgreifen konnte, wenn die Zeiten wieder einmal schlechter werden sollten. Auch spielte er seit der gelungenen Operation mit dem Gedanken, das Seewirtshaus eventuell noch einmal zu vergrößern, um seinem Nachfolger ein noch attraktiveres Erbe zu übergeben. Die Seewiesen wären da sowohl Geldquell für einen Erweiterungsbau als auch eine stattliche Mitgift für die anderen Kinder gewesen.
Es kam jedoch anders.
Ein äußerst betriebsamer Genosse der sozialen Partei hatte unter dem Druck der an den Wochenenden aufs Land hinaus und an die Seen hindrängenden Städter einen Verein zur Sicherung freier Seezugänge gegründet – schließlich sei dies ein Grundrecht und in der Verfassung verankert, so seine aufwieglerisch populistische Begründung – und Gemeinde, Landkreis und Staatsregierung auf seine Seite gebracht. Und ausgerechnet die Seewiesen sollten zu einem großen Badegelände mit Liegewiese ausgebaut werden. Als der Seewirt sich weigerte, seine Wiesen herzugeben, wurde er kurzerhand enteignet. Dieser radikale behördliche Zugriff auf sein Eigentum hatte ihm einen Schock versetzt. Er hatte damit nicht gerechnet, als er sich auf die alleinige Verfügungsgewalt über sein Eigentum verließ. Schließlich sei in der Demokratie das Eigentum geschützt, wurde immer wieder behauptet, und Diktatur war gestern. Denn die exekutierenden Behörden waren alle fest in der Hand jener christlichen Partei, der auch der Seewirt bisher bei jeder Wahl seine Stimme gegeben hatte. Es war die Partei der Land- und Grundstücksbesitzer und des freien Unternehmertums. Und ausgerechnet deren Beamte attackierten mit einer solch arroganten Haltung und Rücksichtslosigkeit seine Eigentumsrechte, dass er sich sofort schon fast im Kommunismus wähnte. Er schickte mehrer Eingaben an die zuständigen Stellen. Aber es half nichts. Die Partei in Bayern sei nicht christlich demokratisch zugerichtet wie im übrigen Deutschland, wurde er belehrt, sondern christlich sozial ausgerichtet, wie es sich für Bayern gehörte. Und auf diesen Unterschied komme es an, und genau der würde im vorliegenden Fall am Seewirt vollzogen. Denn Eigentum verpflichtet, das stehe auch in der Verfassung und dieser Verpflichtung könne er jetzt nachkommen und stolz darauf sein.
Das war etwas zu viel Staatskunde auf einmal für den Seewirt. Er tat, was er sonst nie tat: Er setzte sich hinein in sein eigenes Gasthaus und trank eine ganze Maß auf einmal aus. Eigentum verpflichtet?, dachte er beim dritten Schluck. Aha! Auf einmal! Warum eigentlich gerade meins?
Die Seewiesen wurden öffentliches Eigentum und zu einem großen Erholungsgelände ausgebaut. Mit der Entschädigung, die er dafür erhielt, konnte der Seewirt zwar das Seewirtshaus vollständig renovieren. Das schon. Aber für eine Mitgift oder gar einen Erweiterungsbau blieb kein Geld mehr über. Und vor allen Dingen: Alles, was im Zusammenhang mit den Seewiesen geschah, wurde ihm aufgezwungen. Sogar die Renovierung. Denn hätte er das Geld auf die Bank getragen, was er
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