Mittelreich
ursprünglich vorgehabt hatte, hätte er es auch noch versteuern müssen, und es wäre nur noch die Hälfte wert gewesen. Davon war er am meisten gedemütigt: von der Entmündigung, die man an ihm vollzogen hatte. Die völlige Verweigerung seiner Rechte unter ausschließlichem Verweis auf seine Pflichten. Er machte plötzlich ein paar seltsame Gedanken in seinem Kopf aus, die in der Hirnrinde zum Leben erwacht waren. Er dachte an Bomben und Entführungen, an Molotowcocktails und an Brandbeschleuniger – schließlich standen derlei Begriffe in diesen Tagen öfter in den Zeitungen, auch in der, die er las.
Das ist mir ja noch nie passiert, dachte er, wo kommt denn das auf einmal her? An mir kann es nicht liegen. Das muss schon mit dem Staat was zu tun haben. Oder mit der Gesellschaftsordnung.
Noch am selben Tag ging er zum Pfarrer und beichtete ihm diese gefährlichen Ausschweifungen seiner Gedankenwelt. Der gab ihm zehn Vaterunser auf, die er zur Buße beten sollte. Und im Übrigen, so der Pfarrer, sei es ja wirklich eine Gnade, wenn man auf diese Weise die Bergpredigt befol gen und etwas für die weniger bemittelten Mitmenschen tun könne.
Schon, antwortete der Seewirt, aber die Menschen, die Jesus damals gespeist hat, die sehen auf den Bildern alle würdig aus, wie Heilige, mit ihren vollen Bärten und in ihren langen Wollmänteln, die ihnen, wie den Pferden im Winter die Rossdecken, umgehängt sind. Und schauen Sie sich dagegen das Pack an, das jetzt auf meinen Seewiesen herumtrampelt: lauter Nackerte! Nur weißes schwammiges Fleisch. Andere sehen aus wie räudige Herbstkatzen, so dürr und bleich. Die aus der Kreisstadt haben alle so lauernde Gesichtszüge, wie Asoziale, so energiearm und ausgelaugt wie sesshaft gewordene Landstreicher. Mir wird oft ganz übel, wenn ich da hinschauen und mir denken muss, dass es so etwas überhaupt gibt! Wenn ich die da auf meinen Wiesen herumlungern und sich angeblich erholen sehe, dann kommen mir die Wiesen wie gestohlen vor, gestohlen von Herumtreibern und Nichtstuern, von Arbeitslosen und Grattlern, und nicht wie ein Geschenk von mir an Heilige aus der Bibel!
Er meinte die aufstrebende Arbeiterschaft mit dieser Beschreibung, zu der er ein misstrauisches Verhältnis pflegte.
Versündige dich nicht, warnte ihn der Pfarrer mit erhobenem Zeigefinger, den der Seewirt durchs Beichtgitter hindurch weiß leuchten sah wie eine zu klein geratene Osterkerze, was du dem geringsten meiner Brüder getan hast, das hast du mir getan.
Das sah der Seewirt schließlich auch ein. Denn er war gläubig, und das Alte und das Neue Testament waren seine Bibel. Auch wenn ihm die geringsten unter seinen Brüdern weiterhin ausgesprochen hässlich und abstoßend vorkamen, war sein Groll nach dieser Beichte doch auf wunderbare Weise verflogen und einem sachlichen Misstrauen gegenüber den Behörden gewichen. Er hatte begriffen, dass er auf sich selbst gestellt war und Behörden nur mehrheitlichem Druck folgten und nicht, wie früher, vertraulichen Absprachen hinter geschlossenen Türen. Der Bürgermeister hatte nie ein Wort zu ihm gesagt. Die Demokratie hatte auch ihn zum reinen Stimmenfänger herabgewürdigt. Der Seewirt begegnete ihm nur noch mit einer reservierten Haltung – aber keineswegs verbohrt oder nachtragend, sondern lediglich freundlich distanziert.
Das endgültige Versiegen seiner vorübergehend noch einmal erstarkten Lebensfreude aber lösten ganz andere, familiäre Ereignisse aus.
Das Land war in eine innere Unruhe geraten. Bestehende Werte wurden in Zweifel gezogen. Die Jungen verlangten von den Alten Rechenschaft über längst vergangene Zeiten, in denen sie, die Jungen, noch gar nicht geboren oder höchstens Kleinkinder waren. Gleichzeitig wurden seit Generationen bestehende Gesetze vom Geben und Nehmen, von der althergebrachten Verteilung von Arbeit und Besitz infrage gestellt. An den Universitäten gründeten sich kommunistische Zirkel, die den Keim der Aufsässigkeit, des Aufbegehrens und des sich nicht mehr fügen Wollens in sich trugen, und Gedanken kamen zur Sprache, die wie eine Irrlehre durchs Land geisterten. Randalierer zündeten Kauf- und Zeitungshäuser an, Polizisten wurden mit Steinen beworfen, und was einmal Ehrfurcht und Unterwürfigkeit gegenüber der Obrigkeit und den Autoritäten im Land gewesen war, war nun zu Respektlosigkeit, Hohn und Spötterei verkommen. Langhaarige Teufel in Menschengestalt, die in schamlosen Verhältnissen miteinander lebten und
Weitere Kostenlose Bücher