Mittelreich
eine Gegenwehr unmöglich schien. Er fühlte sich als Störenfried im eigenen Haus durch pure Anwesenheit, weil die anderen – seine Kinder – mit unverschämter Selbstverständlichkeit alle ungeschriebenen Gesetze missachteten und umstießen und darauf herumtrampelten – so empfand er es –, ohne dass sie es selbst vermutlich richtig wahrnahmen. Das war das Schockierende: Sie zeigten nicht die geringste Unsicherheit und Verlegenheit ihm und der Seewirtin gegenüber, die alles viel leichter nahm, viel selbstverständlicher, und sich deshalb auch zu wehren wusste, wenn ihr etwas nicht gefiel, was ihr den Vorwurf von Seiten des Seewirts einbrachte, sie bilde mit ihrem Verhalten eine Art fünfte Kolonne und falle ihm bei seinem Versuch, seine Kinder zu ordentlichen deutschen und christlichen Menschen zu erziehen, in den Rücken. Die Kinder breiteten sich und ihre Bedürfnisse aus und legten ihre Jugend an den Tag, als sei dies alles festgeschrieben in einem ehernen Gesetz, dem sie nur zu folgen brauchten wie einem Naturrecht, ohne Irritation und Hemmung, so als würden sie es schon ihr Leben lang ungehindert tun und als wäre es schon zu allen Zeiten so getan worden. Die Selbstgerechtigkeit, mit der seine Kinder sein Haus zu dem ihren machten und sein eigenes gelebtes Leben samt aller gemachten Lebenserfahrung übergingen, trieb ihm die Tränen in die Augen. Er ging hinauf in die Scheune und fing an, mit einem Besen den Heustaub zusammenzukehren, den er nur aufwir belte, völlig sinnlos und unergiebig, weil der sich hinter ihm wieder legte und Heustaub blieb. Er wollte in seinem Zustand von niemand gesehen und angesprochen werden. Am Abend eines solchen demütigungsreichen Tages legte er sich stumm zu seiner Frau ins Bett und fing zu weinen an, hemmungslos und ohne irgendwas zu sagen.
Was hast du denn schon wieder, fragte sie dann mechanisch und mit monotoner Stimme, du siehst das alles viel zu streng. Du solltest froh sein, dass die Kinder so selbständig und selbstbewusst geworden sind. Stell dir vor, sie würden zwar in die Kirche gehen, aber sonst nur beten und in Büchern lesen und nicht den Mädchen und Buben nachschauen! Woher sollen wir denn da unsere Enkel kriegen?
Sie hatte nicht viel Mitleid mit ihm und war eher genervt von seiner frömmelnden Weinerlichkeit. Aber weil sie ihn auch noch liebte, nahm sie seine Hände in die ihren und streichelte ihm so lange übers dünn gewordene Haar, bis er eingeschlafen war.
Aber es half nichts. Je mehr seine Kinder sich nach draußen orientierten und am gesellschaftliche Leben teilnahmen, je mehr Lern- und Wissbegierde sie entwickelten und ihre eigenen Gedanken mit denen anderer mischten und so zu neuen Erkenntnissen vordrangen und an bis dahin unbekannte Orte der Erscheinungswelt und der Wahrnehmung, desto frömmlerischer und verschlossener wurde der Seewirt. Er ging nun fast jeden zweiten Tag zur Messe und suchte, wann es nur ging, das Gespräch mit dem Ortspfarrer und anderen Gleichgesinnten, um Fragen des Glaubens und der Kirchenlehre zu diskutieren. Zu Hause suchte er sich Arbeiten, die er alleine erledigen konnte – oft sinnlos und überflüssig bis zur Lächerlichkeit und unergiebig wie die endlosen Grübeleien, denen er sich dabei hingab. (Er verlagerte zum Beispiel am Vormittag mit Hilfe einer Schaufel und ei ner Schubkarre einen Kieshaufen von einer Ecke des Hofes in eine andere, um ihn am Nachmittag des nächsten Tages wieder auf den alten Platz zurückzuverlagern.) Nach dem Mittagessen saß er stundenlang im Lehnstuhl und reinigte seine Fingernägel. Wenn seine Schwestern dazukamen, wurde erst lange gemeinsam geschwiegen, bis endlich eines das Gespräch über früher eröffnete, wo dann alles tausendmal Gesagte wiedergekäut wurde, Satz für Satz und Tag für Tag. Oft überlegte er, ob er den Kindern nicht die Türe weisen und sie aus dem Haus werfen sollte. Aber dafür war er zu schwach. Seit immer schon. Es hätte ihm auch keine Ruhe gebracht, sondern sein Leiden und Zweifeln nur noch verstärkt. Diese Erkenntnis immerhin gelang ihm noch und hielt ihn davon ab.
Eines Abends, er war mit der Seewirtin allein zu Hause, seine Schwestern waren von einem Neffen ins Theater abgeholt worden (in die entkernte Hofkirche der Residenz, denn dort wurde eine moderne Interpretation der Salome durch den berühmten polnischen Theaterregisseur Jerzy Grotowski gegeben, und der biblische Stoff in Verbindung mit der altehrwürdigen Kirche schien dem Neffen ein
Weitere Kostenlose Bücher