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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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raffiniert hingeworfener Happen bei seinem Heranschleichen ans Erbe der Tanten zu sein. Doch war es überhaupt noch nicht ausgemacht, ob er bei der Auswahl dieses Theaterabends auch wirklich richtig gewählt oder, was seine Interessen anlangte, nicht doch eher gewaltig danebengegriffen hatte, denn direkt unter dem Altarkreuz räkelten sich im Laufe der Vorstellung und als Teil von dieser blutbeschmierte Nackte beiderlei Geschlechts beim Kopulieren), eben an diesem Abend wühlte der Seewirt lange in einem Pappkarton voll mit Fotos, bis er schließlich eines herausfischte und es vor die Seewirtin hinlegte und sagte: Da, schau an und lies!
    Das Foto zeigte die Kinder im Alter von etwa neun bis vierzehn Jahren, wie sie eng zusammengedrängt beieinandersitzen und, an der Kamera vorbeischauend, interessiert und konzentriert an etwas teilhaben. Man sieht, dass sie einander vertrauen und in einem guten Verhältnis zueinander stehen.
    Das war vor ungefähr zehn Jahren auf dem Oktoberfest, erläuterte der Seewirt, beim Schichtl wurde gerade geköpft. Wie ich das Foto vom Kranz, der es auch geschossen hat, geschickt bekommen habe, habe ich diese Sätze darunter geschrieben. Ich war damals so froh. Lies!
    Die Seewirtin las.
    Beim Anschauen dieses Bildes, das mir mein lieber Kriegskamerad Kranz heute geschickt hat, sind mir folgende Gedanken durch den Kopf gegangen: Ich habe alles richtig gemacht. Das Bild macht mich froh und gelassen. Mehr ist vom Leben nicht zu erwarten. Was jetzt noch kommt an Glück, ist Überfluss, den Gott mir schenkt und den ich vielleicht nicht einmal verdiene.
    Als die Seewirtin aufschaute, hatte der Seewirt schon wieder Tränen tiefen Selbstmitleids in den Augen.
    Aber das ist doch ein schönes Bild, und es sind schöne Worte. Da musst du doch nicht weinen deswegen, sagte sie.
    Ja, schon, sagte er, aber ich habe mich getäuscht. Es ist alles ganz anders gekommen. Von Glück keine Spur mehr. Wenn ich damals nicht so hoffärtig gewesen wäre, könnte ich die Enttäuschungen jetzt vielleicht leichter ertragen. Ich hätte härter sein müssen gegen mich und gegen die Kinder. Man darf sich den schönen Gefühlen nicht einfach hingeben und ausliefern. Ich bin meiner Zeit und meinem Stand nicht voraus. Aber ich bin darin gefangen. Das hätte ich wissen müssen. Ich kann mich nicht mehr ändern. Die Änderung vollzieht sich an den Kindern. Und diesen Prozess halte ich nicht aus. Man erträgt nur, was man selber erlebt. Die eigene ver lorene Jugend im Leben der eigenen Kinder zu erkennen ist unerträglich, obwohl es folgerichtig ist. Das Folgerecht aber ist eine einzige Demütigung für den, der zurückbleibt. Ich habe, als ich so alt war, meinem Vater gehorcht und meinen Willen nicht durchgesetzt. Danach gehorchte ich dem Staat und bin in den Krieg gezogen, ohne Murren. Ich habe meine Jugend meinen Eltern und der Gemeinschaft geweiht. Meine Kinder hauen mir ihre Jugend einfach um die Ohren. Damals, als ich dieses Foto beschriftet habe, war ich so, wie ich bin, wenn mich niemand beeinträchtigt. Ich war perfekt, abgeschlossen und beendet . Ich dachte, alles würde sich fügen. Aber danach habt ihr mir mein Ich-Sein genommen.
    Die Seewirtin stand auf. Ich weiß gar nicht, was du da redest, sagte sie, ich kann dir nicht mehr folgen. Ich versteh dich nicht. Das ist mir zu hoch. Vielleicht bin ich auch zu müde. Ich geh jetzt ins Bett.
    Nein, du bleibst!
    Der Seewirt griff nach ihrem Handgelenk und hielt sie fest.
    Bleib noch ein paar Minuten, bitte! Ich muss dir noch was sagen. Wirklich. Was Wichtiges!
    Die Frau hielt inne und sah dem Mann mild ins Gesicht.
    Was ist denn noch?, fragte sie, was willst du mir noch sagen? Ich muss morgen früh aufstehen. Wie immer. Das weißt du doch.
    Aber sie sah, dass der Mann zitterte, dass seine Lippen und die Hand, mit der er sie festhielt, nicht von ihm beherrscht wurden, dass seine Augen nicht einen Willen, sondern einen Wahn ausdrückten.
    Die Seewirtin war nur eine Bäuerin. Und heiratsbedingt war sie auch noch eine Wirtin geworden. Aber sie durchschaute Menschen instinktiv. So wie sie den Tag anschauen konnte und instinktiv wusste, was dem am nächsten Tag für ein Wetter folgen würde, so konnte sie einem Menschen ins Gesicht schauen und sehen, ob man seinen momentanen Zustand ernst nehmen muss oder nicht. Den Seewirt aber musste sie jetzt ernst nehmen. Das sah sie. Dafür musste sie nicht studiert haben, um zu sehen und zu spüren, dass sie den Mann jetzt nicht allein

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