Mittelreich
nicht: Kunst mich dann vielleicht am Arsch lecken, Herr Lassberg? Weil ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Hier hat’s nämlich grad brennt.
Ein klein wenig eingeschüchtert, weniger von der Forderung des Seewirts, die er nicht ernst nahm, dafür mehr von dessen bedrohlicher Haltung, mit der sich der vor ihn hingestellt hatte, verzog sich der Lassberg wieder. Auch das ist eine Untat der Natur, murmelte er beim Weggehen, dass sie immer wieder solche Grobiane hervorbringt! Na ja. Dann werd ich ihn mir eben zurechtschweißen, diesen groben Klotz, um ihr stümperhaftes Werk zu vollenden, das Werk der Natuur! Ha! Das wird eine vorzügliche Skulptur! Dann hob er den Kopf ein wenig und näselte mehrmals in die Luft: Natuuur! ... Natuuuur! ... allein der Wortklang tut schon weh! Damit erreichte er den Feldweg, der zu seinem Haus und in Richtung künstlerische Arbeit führte und zu einem Ende seiner introvertierten Aggression.
Die Kosten des Wiederaufbaus hat, nachdem alle anfänglichen Verdachtsmomente gegen den Seewirt und seine Familie ausgeräumt waren, ohne Anstand die Brandversicherung übernommen. Das Vieh wurde bis zum Frühjahr auf die verschiedensten Bauernhöfe der näheren und auch der weiteren Umgebung verteilt. Zwei Kalbinnen verschlug es sogar nach Haspelberg. Alle Tiere wurden von dem Bauern versorgt, bei dem sie jeweils untergebracht waren. Handelte es sich um Kühe, durften die Bauern die Milch behalten. Für das restliche, vor dem Schlachten unproduktive Vieh musste der Seewirt später mit Heu oder Fleisch gering entschädigen. Im Frühsommer kamen die Tiere wieder auf ihre angestammten Weiden und im darauf folgenden Herbst schon in den neu aufgebauten Stall des Seewirtshauses. Über das Arbeitsbeschaffungsprogramm der Regierung wurden so viele Arbeitskräfte abgestellt, dass der Wiederaufbau des riesigen Gebäudes im späten Frühjahr bereits abgeschlossen war, so dass im Juni, der Jahreszeit gemäß, das erste Heu schon in die neue Scheune eingefahren werden konnte. Als dann im Herbst das Vieh in den neuen Stall einzog, bekamen alle Kühe auch neue Namen: Die hießen dann Attenbauerin, Liegenkammerin, Schechin, Oberseedorferin und so weiter, jede trug den Namen des Anwesens, in dem sie untergebracht gewesen war.
Jahre später, als der Krieg angezettelt war und nach und nach von nahezu jedem Hof die jungen und bald auch die nicht mehr so jungen Männer wegrekrutiert und die frei gewordenen Arbeitsplätze auf den Bauernhöfen mit den kriegsgefangenen Zwangsarbeitern aufgefüllt worden waren, begann das Konkubinat zwischen den ausländischen Kriegsgefangenen und den Kühen der deutschen Bauern. Später hieß es, wegen der Unmittelbarkeit, mit der dies einsetzte, wäre eine Früherkennung gänzlich unmöglich gewesen. Diese Fraternisation der deutschen Kühe mit den – vor allem französischen, später dann auch russischen – Kriegsgefangenen hatte ihren Ursprung nicht, wie in den ersten Nachkriegsjahren noch allgemein vermutet wurde, in der vermeintlich angeborenen Zügellosigkeit des französischen Soldaten und der angezüchteten, daher widernatürlichen Sittenstrenge der deutschen Kuh, die diesen unnatürlichen Zwang in dem Moment abwarf, als ihr, in Person der französischen Kriegsgefangenen, sozusagen das eigene Arterhaltungsbegehren unmittelbar gegenübertrat und bei ihr die natürliche und angeborene Verhaltensweise wieder erwachte. Nein! Diese Parteinahme hatte ihren Ursprung ganz einfach darin, dass die ausgehungerten Franzosen und Russen, sobald sie unbeobachtet waren, sich aus den Eutern der deutschen Kühe das Recht sogen, das jeder Körper verlangt, wenn er viele Kohlehydrate verbraucht, weil er in eine Zwangsarbeit geraten ist. Dass die deutschen Kühe sich dem nicht widersetzten, sondern, im Gegenteil, stillhielten, kann einer moralischen Sichtweise nicht unterworfen werden. Das wurde im Laufe der Zeit Erkenntnis und allgemeiner Sprachgebrauch. Der Nachkriegsumgang der deutschen Bauern mit ihren Kühen jedenfalls war nicht beeinflusst von diesen Ereignissen auf den deutschen Bauernhöfen während der Kriegsjahre.
Im zweiten Kriegsjahr, kurz vor dem Überfall auf Sowjetrussland, wurde der jetzt gar nicht mehr so junge Seewirt im Alter von nun fast schon 35 Jahren einberufen und bald darauf zuerst nach Russland und danach nach Frankreich abkommandiert – zur selben Zeit übrigens, als im entfernten Kattowitz der bereits 39 -jährige Viktor Hanusch ebenfalls als
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