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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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fragt sich Semi. Patriotischer Stolz des einen über den Sieg und persönliche Scham des anderen über die Niederlage im Jahrhundertgemetzel können die alleinigen Gründe nicht gewesen sein. Es muss noch einen gegeben haben: Die andere Scham, die allgemeine, die von den Siegern verordnete. Und die mischte sich mit der persönlichen Scham über die willig ausgeführten eigenen Taten zu einer eigenartigen Stimmungslage, die sich als Schweigen über die ausgehenden Vierzigerjahre legte und mit gesenktem Kopf und einem Zischeln durch zusammengebissene Zähne durch die Fünfziger schleppte. Und was an sich selbst nicht hinterfragt wird, kann an anderen nicht wahrgenommen werden. Das weiß ich von mir selbst. – Das kann ich ihm doch dann nicht übelnehmen. – Nein. Ich hätte es ihm ansatzlos um die Ohren hauen müssen!
    Und ich?
    Semi steht vor seinem verwaisten Elternhaus und starrt die Hauswand an.
    Deshalb sollen alle verbluten, die einen Schlussstrich ziehen wollen. Sie sollen verbluten an ihrem eigenen deutschen Blut. – Und nicht Mitleid mit den Entrechteten und Geplagten in Geschichte und Gegenwart leitet ihn, eher schon Achtung vor den Ermordeten, vor allem aber Hass. Hass auf die, die das Unrecht und die Plagen in die Welt bringen, weiterhin und immer wieder und ganz bewusst, weil sie ihre Herrschaft darauf bauen und ihre Privilegien daraus ziehen.
    Mit hochrotem Kopf steht Semi vor der Wand. Er ist dem Moment ausgesetzt und sein Gerechtigkeitsempfinden dem Weltenlauf. Diesem liefert er sich täglich ans Messer.
     

     
    Im Januar 1945 erreichte ein amtliches Schreiben die Familie des Seewirts: Der Sohn, Soldat der deutschen Wehrmacht, sei im besetzten Frankreich im heroischen Verteidigungskampf gegen den anrückenden alliierten Feind von einer Granate getroffen worden und liege nun in einem Lazarett im Elsass. Adresse könne keine übermittelt werden, um dem Feind kein Ziel für einen feigen Angriff auf wehrlose, im heldenhaften Kampf fürs Vaterland verwundete deutsche Soldaten zu geben. Der verletzte Kriegsheld sei aber in besten Händen und werde entsprechend gut versorgt.
    Die Nachricht löste im Haus des Seewirts einen Schock aus. Am Weihnachtstag 43 , ein Jahr zuvor, war der alte Seewirt gestorben, und alles war noch auf Trauer ausgerichtet. An allen Türen des Gasthauses, den inneren wie den äußeren, waren selbst im zweiten Jahr danach immer noch mit Reisnägeln kleine schwarze Schleifen neben der Dreikönigtags-Beschriftung 19 + K + M + B + 43 angeheftet, und auf dem großen Büfett im kleinen Gastzimmer, das an den langen Winterabenden Wohnzimmer der Familie war, stand ein großes, schwarz umflortes Hochzeitsfoto des Seewirtehepaars – obwohl die Seewirtin selbst noch am Leben war. Sie war schwer depressiv und hielt sich die meiste Zeit des Tages in ihrem großen Eheschlafzimmer im ersten Stock auf. Die Vorhänge waren auch tagsüber zugezogen und verdunkelten den Raum in eine Grabesschwärze.
    Das Regiment im Haus führte um diese Zeit unangefochten die Brieftaube, assistiert von ihrer Schwester, der Hertha. Den Stall versorgte der nun bereits fast 65 -jährige Alte Sepp und hatte für diesen Bereich, von dem sie nichts verstand, das volle Vertrauen der Brieftaube. Für die Arbeit im Wald und auf dem Feld war man auf die Mithilfe anderer angewiesen. Denn seit 1944 in Frankreich die Invasion der Alliierten geglückt war, waren die französischen Gefangenen abgezogen worden, um Kollaboration im Hinterland zu vermeiden. Man hatte zwar vom Gauleiter einen Tipp bekommen, dass man im KZ Dachau einen russischen Gefangenen für die Feldarbeit anfordern könne, aber davon sah man lieber ab, das schien allen doch zu riskant und zu heikel. Im Haus war schon seit den Zwanzigerjahren der ukrainische Fürst und Maler Habib Mossul einquartiert. Ihm und seiner schönen Frau Sheila war bei deren Ankunft das noch bis in die Achtzigerjahre hinein so genannte Mossulzimmer im zweiten Stock überlassen worden. Mit diesen Dauergästen hatte man nicht nur die besten Erfahrungen gemacht, sondern sie wurden wegen ihrer Eleganz und geheimnisvollen Fremdheit geradezu verehrt. Eben von den beiden bekam man auch die furchterregenden Berichte über das grausame Wüten der Bolschewisten in Russland sozusagen aus erster Hand geliefert, und schon aus diesem Grund, und nicht zuletzt auch aus Pietät gegenüber diesen Gästen, die 1917 aus Russland fliehen und all ihren Besitz zurücklassen mussten wegen Leuten wie jenen, die

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