Mittelreich
Spätberufener im besetzten Polen kriegsverpflichtet wurde. Bei seinem Abschied auf dem Lothof in Eichenkam versprach der junge Seewirt der dortigen Theresa, sie nach dem Krieg, sollte er denn gesund heimkehren, zu heiraten.
Ein ähnliches Versprechen gab ein halbes Jahr später der junge französische Kriegsgefangene Jean Curtin, der schon seit einem Dreivierteljahr beim Seewirt Zwangsarbeit leistete, an einem späten Abend der Schechin, als er noch einmal mit Kerzenlicht in den Stall ging, um sich heimlich von ihr zu verabschieden. Er wollte am nächsten Tag die Flucht nach Frankreich wagen, und außer der Schechin war nichts im ganzen Haus, das ihm den Abschied erschwert hätte. Die Brieftaube hatte zwar bei jeder Gelegenheit, die sich ergab, seine Nähe gesucht, und die Hertha stand ihr in nichts nach, und sie hatten auch, sehr heimliche zwar, aber deswegen nicht weniger intensive Gespräche geführt über Gott und die Welt, vor allem aber über Gott, denn auch Jean war nicht weniger katholisch, als er Franzose war, aber es hatte sich in diesen zehn Monaten nie mehr ergeben, als Arbeit und Kriegsverordnung zuließen: Die Bauern und ihre Familien waren unter Strafandrohung verpflichtet, den Kriegsgefangenen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ohne Unterbrechung Arbeit zuzuweisen und jegliche Art von Erleichterung oder gar Kollaboration zu unterlassen. Naheliegenderweise war der Kontakt zu den Kühen für die Franzosen die unauffälligste Annäherung an ein Lebewesen aus Fleisch und Blut, die möglich war. Und so wollte Jean auf jeden Fall nach dem Krieg, den er für die Deutschen verloren gab, da war er sich sicher, zurückkehren und die Schechin als Beute mit heim nach Frankreich nehmen.
Jean hatte sich mit einem anderen Franzosen, mit Luis Clermont, der bei einem Bauern im Nachbarort Zwangsarbeit leistete, verabredet, und beide zusammen hatten den Zeitpunkt und die Route der geplanten Flucht genau festgelegt. Sie hatten gehört, dass die Deutschen den Großteil ihres Heeres Richtung Osten verlegt hatten und in Frankreich vor allem ältere und spät einberufene Soldaten die Besatzungstruppe bildeten. Nahezu sträflich unterbesetzt waren zu diesem Zeitpunkt, als sich alles nach Osten hin und auf den Überfall auf Sowjetrussland konzentrierte, die Bataillone, die zum Heimatschutz abkommandiert waren. Deshalb rechneten die beiden Franzosen mit einem ungehinderten Durch kommen nach Frankreich, wenn sie den Weg über die österreichischen und Schweizer Alpen nehmen würden, tagsüber irgendwo im Verborgenen schliefen und nachts unterwegs wären. Dabei gingen sie, es war bereits Herbst und die Nächte schon wieder länger, von einer Fluchtzeit von zirka zehn Tagen bis zur Schweizer Grenze aus. Sie hatten am fünften Tag ihrer Flucht den Ort Reutte in Tirol erreicht, als sie von einer Patrouille aufgegriffen und festgenommen wurden. Zur selben Zeit nämlich war, wovon sie nichts wussten, einem französischen General die Flucht aus der Gefangenschaft gelungen, und das deutsche Militär setzte alles daran, diesen hohen Offizier wieder einzufangen. Deshalb wurden genau zu diesem Zeitpunkt alle möglichen Fluchtlinien, die nach Frankreich führten, besonders gründlich überwacht. Dieser Umstand geriet den beiden zum Verhängnis. Der General wurde bis Kriegsende nicht gefunden. Clermont kam in ein Kriegsgefangenenlager und musste in der Rüstungsproduktion arbeiten. Curtin, ein Intellektueller mit politischen Ambitionen, wurde zuerst in die Ukraine verschleppt, wo er, ständig vom Tod bedroht, Frontbefestigungen bauen musste, und kam später in ein Arbeitslager in der Tschechoslowakei. Als die Rote Armee immer weiter nach Westen vorgedrungen war, gelang ihm kurz vor Kriegsende in den Wirren des Rückzugs der Deutschen abermals die Flucht. Versteckt, irgendwo im Bayrischen Wald, nahm er nach der Befreiung von den Nazis seinen Heimweg wieder über Seedorf. Er bekam umsonst ein Gästezimmer beim Seewirt und führte die durch seine Flucht unterbrochenen intensiven Gespräche mit der Brieftaube fort, bevor er, mit Beginn des Sommers, heimkehrte in seinen Heimatort nahe Lyon. Dort wurde er bald darauf Bürgermeister und später Senator in Paris. Die Schechin ließ er mit einem Augenzwinkern im Stall des Seewirts zurück.
Das ist die kleine Geschichte eines französischen Weltkriegssoldaten.
Warum weiß ich nicht, was zur gleichen Zeit der deutsche Wehrmachtssoldat in Russland und Frankreich tat, der mein Vater war?,
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