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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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sich das Fräulein auf und schaut ihn an, beinah ohne jede Regung, aus großen, hellen, blauen Augen und sagt: Ist es erlaubt, Herr Oleg? Dann werde ich jetzt wieder nach oben gehen! Und erhebt sich vom Seziertisch – und geht.
    Am nächsten Morgen, als der Kommandant der Russen kommt, um mitzuteilen, dass das Gut konfisziert sei und das Fräulein bis Mittag Zeit habe, das Nötigste zu packen – und nicht mehr, und danach das Land zu verlassen habe, in Richtung Westen, wogegen die polnischen Landarbeiter und Landarbeiterinnen vorerst weiter in ihren Behausungen bleiben könnten, bis endgültige, politische Entscheidungen mit bleibender Wirkung gefällt seien, und er dabei mit abschätzig neugierigem Blick schaut, der Kommandant, auf das Fräulein, und ihm sein Bedauern kundtut darüber, dass er am Abend vorher nicht dabei sein durfte, als das bereits in aller Munde sich befindliche, ungewollte und kompromittierende Beschauen von des Fräuleins ungenormtem Fleisch über Teile seiner Kompanie gekommen war – während er also gewunden spricht und das von einem übersetzen lässt, der übersetzen kann – da hat das Fräulein schon alles, was es braucht, beisammen und ist verschwunden, noch eh der Kommandant, der das abgeschmackte Reden und So-Schauen nicht lassen kann – zu gerne würde er noch selber einmal prüfen, was im Bericht der andern steht –, sich verzogen hatte.
    Später dann entdeckte Oleg, der vom Kommandant der Russen vorübergehend zum Kommissar für Haus und Gutsverwaltung ausgerufen worden war, beim Durchstöbern des konfiszierten Herrenhauses versiegelte Aufzeichnungen der Rittmeisterin, denen zu entnehmen war, dass die Frau Rittmeister zwar gleich nach der Adoption das Malheur erkannt, jedoch den Handel nicht mehr hatte rückgängig machen können, aber gehofft hatte, das verkehrt Geratene würde sich im Lauf der Zeit von selber wieder so begradigen, dass es zum Schandmal nicht mehr taugen würde, dann jedoch, als nichts sich tat und sie nicht wusste, mit welchen Worten sie es ihrem Mann, dem Rittmeister, hätte beibringen können, nach langem Ringen mit sich selbst und den Gesetzen ungeschrieben festgeschriebner Konvention beschloss, das Geheimnis um ihre Adoptivtochter nicht zu lüften, um so eine unbeschwerte Jugend für das Kind und für sich selbst eine nach und nach sich in ihr ausbreitende Liebe zu diesem Kind zu retten. Die Anmeldung des Kindes bei den Behörden, die ihre Angelegenheit gewesen wäre, so wie alle familiären Dinge vom Rittmeister ihr anvertraut waren, die unterließ sie, weil sie nicht wusste, ob ein Mädchen oder ein Junge anzumelden sei, und eine Falschangabe für ihr ordnungs- und wahrheitsbejahendes Selbstverständnis nicht in Frage kam. So blieb das Kind behördlich ungeboren.
    In der Folge erzog sie den Hermaphroditen so, dass dieser das Gefühl haben musste, vollkommen normal gewachsen zu sein. Sie überwachte Kindergeburtstage und Badeausflüge mit solch raffinierter Akribie, dass es beim Spielen ihres Kindes mit anderen Kindern nie zu Entkleidungsszenen kam. Als sich dann, Jahre später und dem Alter des erwachsen gewordenen Kindes entsprechend, die Liaison des Fräuleins mit dem Baron von Kleist anzubahnen begann, brach Panik aus bei der Rittmeisterin, und sie versuchte, mit allen Mitteln eine Intensivierung der Annäherung zu hintertreiben. Doch es gelang ihr nicht. Als dann der Baron, völlig unerwartet und schon nach unstatthaft kurzer Zeit der Bekanntschaft mit ihrer Tochter bei ihr vorstellig wurde, um mit scharfen Worten eine Rechtfertigung einzufordern dafür, dass sie, als Mutter, der die Missgestaltung der Tochter doch nicht entgangen sein dürfte, es nicht verhindert hatte, ihn in eine solch peinliche Situation geraten zu lassen, vermochte sie es jedoch, nach langen, wortreichen Beschwichtigungen und unter Einsatz heftig fließender Tränen, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Gemeinsam entwickelte man den Plan vom fingierten Heldentod des Barons auf einem Schlachtfeld des sich bereits ankündigenden Ersten Weltkriegs. Auf diese Weise, so kam man überein, wäre die Ehre aller Beteiligten dem Stande gemäß gerettet. Denn eine solche Peinlichkeit hätte nicht nur für die Familie des Rittmeisters eine Gefährdung ihrer herausgehobenen gesellschaftlichen Stellung bedeutet, unter deren Auswirkung das gesellschaftliche Leben im engen Raum der ländlichen Strukturen und im Kreis der aristokratisch verwandtschaftlichen Verknüpfungen zum Erliegen hätte kommen

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