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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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der Lüster bewegt sich, denkt das Fräulein, er pendelt aus, unmerklich und schwer. Er muss vor kurzem noch in Schwung gehalten worden sein. Wenn er sich gleich aus der Verankerung im Gewölb der Halle lösen würde, wäre das für mich jetzt die Erlösung. Wieder kommt dem Fräulein der Sinn der Worte in den Sinn. Diesmal der von lösen und Erlösung. Es fühlt sich selbst wie losgelöst. Doch wovon? Das kann ich jetzt nicht denken. Ich weiß es nicht, denkt es. Es erinnert sich, dass der Mensch, der in sein Zimmer eingedrungen ist, es am Oberarm gegriffen hat. Eine Unverschämtheit sondergleichen, denkt es. Danach war es in Gedanken eine lange Zeit lang beim Baron. Intensiver noch als sonst. Aber wie es in die Halle auf den Tisch kam, weiß es nicht. Ich muss ohnmächtig gewesen sein.
    Jetzt ist das Fräulein wach. Es kriegt alles mit, was um es rum und was an ihm passiert. Doch ist das alles ganz weit weg und berührt es kaum. Aber vielleicht täuscht es auch. Denn es spürt, wie Flüssigkeit aus seinen Augenwinkeln über Schläfen und entlang der Ohrenmuscheln fließt und vom Halsgrat tropft. Das müssen Tränen sein. Die eigenen. Denn der Mann, der sich gerade übers Fräulein beugt und mit einem Bajonett des Fräuleins Kleidung schlitzt, der weint nicht, der schaut nur angestrengt. Sein Gesicht verschwindet wieder samt dem Bajonett. Er nestelt weiter, weiter unten, an der Scham. Das kalte Eisen seiner Waffe fühlt sich an wie Feuer auf des Fräuleins Haut. Und in der Halle wird es still. Bald ist kein Reden mehr im Raum und keine fremde Sprache. Es stehen nur noch stumme Körper um das Fräulein rum, aus deren Köpfen Augen fassungslos ins Unbekannte starren.
    Das Fräulein sehnt sich nach dem Lüster, dass er ihm und dem, was ist, ein Ende mache.
     
    Stumm stehen Soldaten vor einem nackten Körper, der ausgestreckt und wehrlos auf aufgeschlitztem, leinenweißem Nachthemd liegt. Glatte, unverbrauchte Haut, zart, weich und weiß, ungeheuer weiß, papieren weiß, umschmiegt ihn. Zwei kleine, fromme Brüste, nie berührt, wölben sich wie eine ewige Vergebung auf herrlich ausgeformtem Wuchs. Wenn Soldaten Augen hätten, sähen sie, was keiner noch vor ihnen sah: vergeblichen Verfall, besiegte Natur. Kein Hauch von der Zahl gelebter Jahre und dem Alterseinbruch im Gesicht ist zu sehn auf diesem Körper. Zu schön und makellos ist er, um so beschmutzt zu werden. Soldaten haben Augen, mittlerweile sogar wieder zwei. Doch damit starren sie auf eine Stelle unterhalb des Oberkörpers, zwischen den Beinen, die sie zu hemmungslosem Schauen reizt. Auf der Scham des Fräuleins reckt sich die ausgegrenzte Lust des Zwitters, das Mal des Hermaphroditen: Das Fräulein hat eine Zipfelpritsche. So nennt man dieses Phänomen in jener Gegend auf dem Land, wohin das Fräulein in den nächsten Tagen fliehen wird, wenn man es ins dortige, dialektgefärbte – und plumpt direkte – Reden übersetzt. Zipfelpritsche.
    Im Moment bedeutet dieses Phänomen den Stillstand männlich roher Selbstgewissheit. Denn unten ist das Fräulein sowohl Mann als Frau. Eine Seltenheit, die ihm jetzt gerade Unberührtheit und vielleicht sogar das Leben sichert. Für die Männer ist das Phänomen ein unbekanntes Land. Noch keiner hat so etwas je gesehen. Sie wissen nicht, wohin damit. Sie fürchten sich davor und verlassen, als sei nichts gewesen, einer nach dem anderen das Haus. Was jeder nur für sich und alle doch gemeinsam angesehen haben, löst bei jedem Einzelnen von ihnen Scham gegenüber allen anderen aus, die es auch gesehen haben. Sie vermeiden es, sich anzusehen, und verschwinden ohne Blicke füreinander, jeder so, als wäre nichts geschehen. Draußen kichern sie, wissen aber nicht, warum.
    Das Fräulein schließt die Augen. Ganz allein steht jetzt der Oleg da. Also geht er erst einmal nach oben und kommt mit einer Decke wieder. Wieder steht er da, allein, und hält den Kopf gesenkt. Neben dem Tisch steht er, auf dem immer noch das Fräulein liegt, und schaut sich erst mal vergewissernd um. Dann aber hebt er seinen Blick und schaut, da kein anderer mehr schaut, auch das Fräulein nicht, das fest zu schlafen scheint, noch einmal viel genauer hin, nicht mehr nur aus Augenwinkeln, um später, irgendwann einmal, gut gewappnet und im gut gewählten Augenblick genauesten Bericht zu geben von dem, was er und andre heute hier gesehen. Dann deckt er das Geheimnis zu, sehr vorsichtig, das nun keins mehr ist und trotzdem eines bleibt.
    Da aber richtet

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