Mittelreich
wer. Eine Frauenstimme. Er geht hinaus auf den Steg, und da steht, ganz vorne an dessen Ende, das Fräulein Zwittau und singt. Wahrscheinlich märkische Volkslieder, denkt der Seewirt. Ist Ihnen nicht gut?, fragt der Wirt. Mir geht es sehr gut, antwortet das Fräulein. Ich habe Sturm immer geliebt. Wenn man ihm direkt ausgeliefert ist und feste in ihm steht, hat man das Gefühl, etwas Großes zu sein. Ich halte dem Sturm gerne stand. Verstehen Sie das? – Nein, Fräulein Zwittau, ehrlich gesagt, das verstehe ich nicht. Ich hoffe nur, dass die Eberesche dem Sturm standhält. Dann bin ich schon zufrieden. Ich gehe jetzt. Gute Nacht. Und passen Sie auf, wenn Sie heimgehen. Es könnten Äste von den Bäumen herunterbrechen.
Im Hause angelangt, sperrt er noch sorgfältig die Haustür zu, dann geht er endlich nach oben. Leise tritt er ins Schlafzimmer, an dem laut der Wind von außen rüttelt. Er hört eine ganze Weile dem Atmen von Frau und Kindern zu. Still steht er im Raum und horcht. Dann wird er ein bisschen glücklich. Er spürt Liebe zu den Kindern und zur Frau. Auch das Leben liebt er auf einmal und merkt, dass ihm das noch nie in den Sinn gekommen ist. Und den Sturm fängt er an zu lieben, der das Haus erzittern lässt und ihm plötzlich sehr vertraut ist. Er schwankt ein wenig und erkennt daran, dass er auch nicht keinen Alkohol getrunken hat den ganzen Abend. Das steigert seine innere Erregung noch. Breitbeinig steht er unbewegt im dunklen Zimmer. In seiner Nase dehnt sich das Parfüm der Meinrad. Tief atmet er es ein und fühlt mehr, als er weiß.
Die Frau wacht auf und sieht in dem vom Vorhang abgedeckten Mondlicht einen unbewegten Schatten stehen, und der Sturm reißt wild am Haus, fast wie ein Gaul am Pflug. In dem Moment, als sie erschrocken aufschreien will, geht ein Ruck durchs ganze Zimmer, ein zweiter folgt dem ersten, der Mann macht einen Sprung, als wolle er dem Ruck entgehen. Da schreit die Frau den Schrei heraus, den sie noch zurückgehalten hat, markiert den Raum mit ihm und weckt damit die Kinder. Die orientieren sich wie tapsig kleine Tiere und fangen dann zu weinen an. Der Seewirt rennt zum Schalter, doch er knipst umsonst, die Technik reagiert nicht mehr, der Strom ist weg. Wo sind die Kerzen?, fragt er barsch die Frau. – Im Schrank, gleich neben dem gewalkten Leinen, sagt sie. Was ist denn das gewesen, um Gottes willen? Sie ist voll Angst und zieht die Kinder her zu sich, die sie nicht sieht und nur ertasten kann. Die fürchten sich noch mehr dadurch und wimmern nur noch vor sich hin und reißen ihre Augen auf. Umsonst. Das Grauen bleibt unsichtbar. Der Mann hat sich die Kerzen unterm Leinentuch ertastet und fragt die Frau, wo denn die Zündholzschachtel sei. Die muss danebenliegen, meint sie. – Ich kann aber nichts spüren, sagt er und tastet weiter ins Leere. – Ja dann weiß ich es auch nicht, sagt sie. – Denk doch nach, Frau, denk nach!, schreit er sie an, fast hysterisch schon, und will durch Heftigkeit ersetzen, was ihm an Übersicht und Ruhe fehlt. – Aber da müssen sie liegen, jammert sie, wo soll ich sie denn sonst hingetan haben, und ist noch ängstlicher und schon sehr verzweifelt, weil der Mann so rabiat wird. – Verflucht, verflucht!, schreit er schon ganz unbeherrscht und bringt damit die Kinder auf, die jetzt nicht mehr weinen, sondern brüllen. Wenn man nicht alles selber macht, pflügt der außer sich geratene Mann weiter durch die aufgewühlten Ängste seiner Frau und seiner Kinder und durch die eignen sowieso, wenn man nicht überall selber – doch, da, halt – jetzt hab ich sie – jetzt hab ich sie ... Und endlich geht der erste Lichtschein durch das vertraute, doch in diesem Augenblick verfluchte Zimmer. Als die erste Kerze endlich brennt, erkennt man, dass noch alles da ist, wo es vorher war. Ein bisschen Ruhe kehrt zurück. Da muss ein Baum in die Stromleitung gefallen sein, sagt er. Ich geh nachschauen. Er zündet eine zweite Kerze an, die er auf den Nachttisch klebt mit ihrem eignen Wachs. Und dann geht er – endlich, denkt sie –, die zweite Kerze vor sich haltend und mit gewölbter Hand die Flamme schützend, auf die Suche. – Endlich.
Erst nach einer halben Stunde kommt er wieder. Stumm setzt er sich aufs Bett zur Frau und sagt kein Wort. Da merkt sie, dass er weint. Die Kinder sind schon beinah wieder eingeschlafen, doch wach genug, um später einmal davon zu berichten. Das ganze Dach ist weg, sagt er, das ganze Hausdach liegt da oben im
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