Mittelreich
entgleiten drohte. Ob auch eines der Kinder unbewusst zu einem stillen Zeugen geworden war? Es spielt für den Verlauf dieser Geschichte keine Rolle, denn sie ist erfunden, und alles, was an ihr wahrhaftig klingen mag, ist demnach unvermeidbar. Denn nicht nur der Seewirt, auch seine Frau trat von nun an ganz anders in Erscheinung, als sie es in der Vergangenheit je getan hatte. Sie wurde nach dieser Nacht, in der sie ihren Mann, ohne es selbst zu begreifen, vor eine für das bäuerliche Selbstverständnis ungeheuerliche Entscheidung gestellt hatte: Entweder du verhältst dich jetzt wie ein Mann, dessen wichtigste Lebensaufgabe die väterliche Fürsorge ist, oder ich werde dich verlassen – nach diesem unglaublichen Ultimatum also wurde sie mit einem Male zu einer resoluten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch selbstbewussten Frau, die sich gegen die bösartigen Anfechtungen ihrer Schwägerinnen endlich zu wehren und durchzusetzen wusste. Sie wurde zu einer energischen Haus- und Geschäftsfrau, und dem Seewirt brachen seine gesamten bisherigen, in ferne Welten drängenden Existenzvorstellungen an einem einzigen, ihn restlos überfordernden Tag, an dem alles auf ihn einzustürmen schien, zusammen, und er fasste wieder Fuß im Eigentlichen. Nur eine Eigenart war ihm geblieben, hatte sich womöglich sogar noch mehr Raum verschafft: das Vor-sich-hin-Grübeln, sobald eine Schwierigkeit auftauchte.
Im Seewirtshaus begann also der Tag, der diesem 27 . Februar folgte, genauso wie alle anderen davor auch: Die tägliche Arbeit wartete darauf, erledigt zu werden. Es war ganz normal, dass der Seewirt am nächsten Tag im Obstgarten droben mitten in den Trümmern seines abgedeckten Hausdachs stand und zusammen mit dem Feuerwehrhauptmann Sepp Mayrhofer aus Kirchgrub die Aufräumarbeiten dirigierte – so wie es zwanzig Jahre zuvor sein Vater in der Brandruine und vor neun Jahren die Trümmerfrauen in den Ruinen der zerbombten Städte auch getan hatten. Bald deckte ein neues, nun mit roter Ziegelfarbe gestrichenes Blechdach sein Haus, beschützte es wie ehedem vor Regen und Wind und schenkte seinen Bewohnern wieder das gewünschte trügerische Gefühl von ewiger Geborgenheit und Ruhe.
Noch während die Zimmerleute ihre Arbeit machten, die insgesamt vierzehn Tage dauerte, und die Spengler das Blech zurechtschnitten und aufs Gebälk nieteten, begannen der Seewirt und seine drei Knechte, unterstützt vom Taglöhner Tucek und von drei Vettern aus der nahen Verwandtschaft, mit dem Eiseinfahren. Die Wetterlage hatte sich nach dem Jahrhundertsturm , zu dem ihn die Brieftaube postwendend erklärt hatte, dahingehend geändert, dass am Tag danach ein Tauwetter einsetzte und mit einem baldigen Dahinschmelzen des zerstückelten Eises auf dem See gerechnet werden musste. Sofortiges Handeln war angesagt, denn mit einem nochmaligen Zufrieren durfte um diese Jahreszeit nicht mehr gerechnet werden, wenn man nicht einen leeren Eiskeller den ganzen Sommer über riskieren wollte.
Öh, Bräundl, öööhhh!, beruhigt der Seewirt das Pferd, das gerade mit dem hinteren linken Huf auf eine lose Eisscholle getreten und dabei vom wegrutschenden Eis in einen gefährlichen Spagat seiner Hinterläufe gezwungen worden ist. Zitternd steht der Gaul jetzt da, nachdem er gerade wieder in die Höhe gekommen ist. Das hätte saublöd ausgehen können, sakra sakra!, murmelt der Seewirt, der seit kurzem, wenn er sich alleine wähnt, Selbstgespräche führt. Zumindest ein Beinbruch wäre drin gewesen, wenn nicht gar ein ausgerenktes Hüftgelenk. Dann hätte man das Tier einschläfern müssen. Sakra sakra! Auch dem Seewirt steckt der Schreck noch in den Gliedern, und er zittert nicht weniger als das Pferd, nur unauffälliger.
Ich sag es dir doch schon die ganze Zeit, Onkel, sagt der jungspundige Neffe seiner Frau, einen Bulldog musst du dir endlich kaufen. Mit einem Bulldog passiert dir so was nicht mehr. So, jetzt steh zurück, schön brav, jaaa, schön brav steht er jetzt zurück der Bräundl, redet der Seewirt auf den Gaul ein und nötigt ihn sanft rückwärtszugehen, indem er ihn, nah vor seinem Kopf stehend, mit beiden Händen fest am Zaum zeug hält und mit leichtem Druck vor sich her schiebt. Am Rossgeschirr eingehängt ist die lange Deichsel eines Brückenwagens, der mit seiner Gummibereifung jetzt langsam und fast unhörbar aufs Eis rollt. Gummiwagen heißt das neue Transportgerät. Ganze zwei Monate hat der Wagner Veigel gebraucht, um den einstigen
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