Mittelreich
Verzweiflung lockt, Sehnsucht zehrt: Er schmeckt die Frau, die er verloren glaubt, mit unerträglichem Begehren, überall wo Sinne reizen: auf der Haut, im Fleisch, im Kopf, in Mund und Nase, im Sinnen-All – und fühlt sich übergroß in seinem Leid – und in dem Raum, der ihn umschlossen hält und der er selber ist.
Ganz wie von selber fängt es leise an in ihm zu singen, steigt auf und dehnt sich, bis es Ton voll Inbrunst wird und Form und selbst zu einem Teil der aufgewühlten Elemente: Ha, stolzer Ozean – dein Trotz ist beugsam – doch ewig meine Qual! – Das Heil, das auf dem Land ich suche, nie werd ich es finden! ... Dich frage ich, gepriesner Engel Gottes – war ich Unsel’ger Spielwerk deines Spottes, als die Erlösung du mir zeigtest an? Vergebne Hoffnung! Furchtbar eitler Wahn! Um ew’ge Treu auf Erden ist’s getan. – Ihr Welten endet euren Lauf! Ewge Vernichtung, nimm mich auf!
Sein schöner Bariton ist auf einmal mehr als seine Verzweiflung, mehr als er selber. Er meint den Text und ist doch selbst nur noch Gesang.
Und siehe, der Wind ließ nach, und die gebeugte Eberesche richtete sich wieder auf, die schwarzen Regenwolken verzogen sich über den Kalvarienberg hin und über ihn hinweg bis in den tiefen Osten. Nach und nach kam der See zur Ruhe, das geborstene Eis türmte sich nicht mehr auf am Ufer, sondern verteilte sich in tausend kleinen Schollen fleckig über den ganzen schwarzen Wassergrund und ließ auch kein Vernichtungswerk zurück. Im Obstgarten oben lag das Dach ruhig im Schnee. Die meisten Teile des tragenden Gebälks blieben erhalten und wurden später von den Zimmerleuten wieder eingesetzt. Wer in der Nacht noch wild gefeiert hatte, half am nächsten Tag schon wieder mit beim Aufbau. Neue Verankerungen gaben dem neuen Dach einen neuen, bis heute nicht nachgebenden Halt, und aus dem verträumten, von betörenden Sehnsüchten umtanzten Seewirt war über Nacht ein brauchbarer Kleinunternehmer und Familienvater geworden. Mann und Frau liebten sich fast über ihren Tod hinaus, und noch lange hielt sich das Gerücht, dass der Seewirt am Faschingssonntag 1954 mit einer Wagner-Arie den tollwütigen Sturm bezwungen habe.
Denn ein Mensch hatte ihn singen hören, in dieser denkwürdigen Nacht, ein einziger Mensch nur, ein halber: Der ausgebombte und seither anstellungslose Cellist Leo Probst, der vors Haus gegangen war, um seine Notdurft abzuschlagen und der, als klassischer Gesang vom See her wehte und den Sturm bezwang, einen Moment lang glaubte, die von ihm so heiß herbeigesehnte Zeit sei angebrochen und künstlerische Imagination nun endlich vor zur Herrschaft über die banale Wirklichkeit gedrungen. Wo er in diesen Tagen hinkam, erzählte er, dass er dabei war, als Wagners Kunst den Gott des Sturmes in die Knie zwang.
Er hat diese Wahrheit, gewissenhaft und mit Emphase, ohne jemals zu ermüden, noch viele Jahre lang und immer wieder, wo immer die Gelegenheit sich bot, gepriesen als Beweis für den Primat der Kunst über die Natur.
Für den Seewirt war der moralische Zusammenbruch, der ihn in den Frühstunden des 28 . Februar ereilt hatte, keine von ihm am nächsten Tag bewusst erfahrene Zäsur – auch nicht in den Tagen, Wochen und Monaten danach. Die Zeit und sein Leben liefen in seiner Wahrnehmung so ungebrochen dahin wie vorher auch. Wenn er in seinen letzten Lebensjahren, in denen er die meiste Zeit des Tages in einem halbhohen Lehnstuhl saß und darin wiederum die meiste Zeit im Sitzen schlief, wenn er da, im Wachzustand vor sich hin grübelnd, vielleicht das eine oder andere Mal darüber nachgedacht haben sollte, wann sich eigentlich sein früher so aufgewühltes Inneres auf einmal zu beruhigen begann und warum, so erinnerte er sich ganz sicher nicht dieses einen Februartages im neunten Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Nein. Zeit und Umstände für sein Fußfassen in einem geordneten Familien- und Geschäftsleben blieben seinem Bewusstsein verschlossen. Er fühlte nur im Laufe der Jahre, dass sein Leben irgendwie in einen gleichmäßigen Fluss geraten war. Er nahm es einfach irgendwann einmal wahr und wunderte sich einen kleinen Augenblick lang ein klein wenig darüber. Mehr nicht.
Und doch waren es die Ereignisse dieser einen Nacht gewesen, die den Seewirt auf das andere Gleis gehievt hatten, auf dem er von da an sein Leben erfuhr . Jene Nacht, in der alleine seine Frau mitbekommen hatte, wie hoffnungslos er zu entgleisen und sich und ihr zu
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