Mittelreich
Obstgarten. Es war ein bisschen so, wie wenn die Katze geworfen hatte, ihre Jungen aber gut versteckt und unauffindbar waren. Dann suchten die Kinder tagelang und beobachteten die Katze, wohin sie sich nach der Nahrungsaufnahme verzog. Auf der Suche nach der verschwundenen Mare jedoch gab es niemand, dem man folgen konnte, um fündig zu werden. Die Mare war, genau wie 1925 Jahre zuvor der Herr Jesus Christus, noch in der Nacht in den Himmel aufgefahren. Aber das wusste natürlich niemand. Deshalb wurde noch tage- und wochenlang nach ihr gesucht, die Polizei wurde eingeschaltet, und viele erschauerten in ihrem Innern über dieses rätselhafte Verschwinden einer alten Frau. Ihr Zimmer wurde belassen, wie es war, noch fünfzehn Jahre lang, und erst als es einer anderen Bestimmung zugeführt worden war – aus dem Zimmer der Mare wurde ein begehbares Kühlhaus zum Lagern von Fisch, Fleisch, Obst und Gemüse und natürlich auch von Milch, von all dem eben, was vorher über Generationen hinweg der Eiskeller frisch gehalten hatte –, erst als aus der Mare ihrem Zimmer also ein Kühlschrank geworden war, war auch die Mare vergessen. Die Erinnerung an sie blieb haltbar, bis Haltbarkeit künstlich hergestellt werden konnte. Sie verschwand danach aus dem Gedächtnis der Leute, wie ihr Körper aus ihrem Lehnsessel verschwunden war: unauffindbar.
Nur auf dem Kirchgruber Friedhof ist ein schiefes kleines eisernes schwarzes Kreuz immer noch nicht ganz umgefallen, das in einem leeren Grab drinsteckt und worauf ihr Name steht: Maria Netting † 1960 . Im zweiten Jahr nach ihrem Verschwinden war ihr Tod offiziell erklärt worden.
Schwebe leicht, Alte Mare! Schwebe!
Als der Winter kam, kamen mit ihm abermals die beiden Monteure von der Firma Lindberg und nahmen den Fernseher des Ziegltrum wieder mit. Einen Monat später wurde auch die 500 er BMW abgeholt. Und so wie dem Ziegltrum erging es in diesen Tagen noch vielen kleinen Leuten, die auch schon ganz früh, aber zu Unrecht, weil finanziell nicht ausreichend gewappnet, am Aufschwung im Land teilhaben wollten. Sie hatten das Geburtsläuten der Werbeglocken für die Konsumgesellschaft aufmerksam vernommen, und auch der Glaube fehlte ihnen nicht, wohl aber die Mittel.
Der Junge griff nach der Hand der Mutter, sie wegzuschieben, als sie durch das heruntergelassene Fenster eine Haarsträhne aus seinem Gesicht streichen wollte, um ihn noch einmal zu berühren, ohne sich zu verraten, er genauso, um nicht zu zeigen, wie sehr er diese Berührung begehrte – da fuhr das Auto mit einem Ruck an und riss die beiden Hände auseinander in dem Moment, als sie einander ergriffen hatten nur zu dem Zweck, sich voneinander zu lösen. Da war auch die Bindung des Jungen an seine Mutter endgültig zerrissen und für immer. Sie spürte von nun an einen ziehenden Schmerz im Gefühl und verbrauchte ihn sofort und immer wieder in Arbeit.
Gegen Abend verabschiedete sich der Vater an der Pforte des Klosters, dem künftigen Zuhause des Jungen, und ließ ihn allein zurück. Die kommenden Wochen wurden neu und schwer. Das Heimweh hatte ihn erfasst, als der Vater vor der großen eichenen Türe die Hand auf seine Schulter gelegt und gesagt hatte: Du schaffst das schon – und dann ins Auto des Kriegskameraden eingestiegen und weggefahren war. Zuvor war seine Neugier noch stärker gewesen als die Ungewissheit. Doch jetzt quollen ihm Tränen in die Augen – er hatte keine Kraft mehr, sich gegen sie zu wehren – und bildeten den Schleier, der nach innen alles trübt, nach außen aber alles verrät und nichts versteckt. So ging er, weil er musste, hinauf ins zweite Stockwerk in den Schlafsaal und schämte sich. Viele lagen lange wach in dieser Nacht wie er und schliefen erst, als die Erschöpfung schwerer wog als Verlassensein und Einsamkeit. Vierzig Betten standen in einem großen Raum beieinander, und beinahe alle, die in ihnen lagen, waren neu hier. Ein bleierner Schlaf hielt ihn fest, der nicht heilte und nicht tröstete. Fremde Schatten bedrohten ihn, wenn er erwachte und sich umsah und keine Erinnerung da war und auch kein Gedanke ihm Hilfe bot beim Zurechtfinden in der unbekannten Umgebung. Die Träume, die ihn aufsuchten in dieser und den folgenden Nächten, entführten ihn zügiger und öfter als sonst an unbeschwerte Orte – so wie diese, in jedem neuen Tag, der nun anbrach, immer mehr und schließlich für immer verschwanden. In der Erinnerung aber wurden sie ihm, bestimmt und
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