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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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umgedeutet vom Leid, zu Orten früher Einsamkeit und Verlassenheit.
    Im letzten Traum dieser ersten Nacht sah er die Mutter über sich gebeugt, zart mit der Hand seine Stirn streichelnd, und hörte ihren Gutenmorgengruß. Im Schlaf noch erschrak er über den harten Klang ihrer Stimme und öffnete beim zweiten Mal verstört seine Augen dem neuen Tag. Guten Morgen! An seinem Bett stand ein fröhlicher Pater und lächelte herunter zu ihm. Erschreckt nicht, sagte der Pater in den Raum hinein, erschreckt nicht, wenn ihr euch die Augen reibt und die Umgebung euch fremd vorkommt! Ihr seid jetzt nicht mehr zu Hause, ihr seid jetzt hier in einem Internat. Aber ich und meine Mitbrüder werden alles tun, damit ihr euch hier wie zu Hause fühlt. Geht jetzt zuerst einmal unter die Dusche, und dann zieht euch an. Ihr habt genügend Zeit bis zum Frühstück. Und du? Willst du lieber noch ein bisschen träumen, fragte er freundlich den Jungen. Aber der stieg sofort aus dem Bett. Des Paters gute Laune bedrängte ihn. Er fühlte sich von solcher Freundlichkeit unter Druck gesetzt, sie erwidern zu müssen. Ein Unbehagen überkam ihn. Noch war alles fremd hier und Nähe Bedrängnis. Er beugte sich unter den Strahl einer der zahlreichen Duschen in dem großen, gekachelten Raum, in den sie sich vor des Paters Freundlichkeit geflüchtet hatten, er und die anderen. Im Abstand von einem Meter und einer neben dem anderen räkelten sich die nackten Bubenkörper unter den dampfenden Wasserstrahlen. Wieder schämte er sich, obwohl beinah alle Bade- oder Unterhosen trugen. Er auch. Es war die intime Nähe zu den fremden Jungen, die neues Unbehagen schuf. Alle beäugten sich heimlich, einige lachten. Im Eingang zum Duschraum stand der Pater und lächelte. Kommen wir allmählich zum Schluss, sagte er. Ihr müsst euch keine Badehosen anziehen zum Duschen. Bei uns geht es so streng nicht zu. Sonst reicht der Platz nicht auf der Trockenleine für die Handtücher. Unter der Bettdecke zog der Junge seine nasse Badehose aus und eine frische Unterhose an. In der Nähe stand der Pater und schaute herüber. Er lächelte.
    Nach 25 Tagen, in denen er verzweifelt Halt gesucht hatte, ließ seine Sehnsucht nach Heimweh nach. Er lernte einen stillen Jungen kennen, in dessen Nähe er die Bedrängnis vorübergehend vergaß, die ihm der Mangel an Geborgenheit und Intimität unter 250 Schülern und Mönchen in der ausweglosen Umklammerung des Klosters bereitete.
    In diesen 25 Tagen hatte er in der Turnhalle täglich eine Stunde und mehr am Barren geübt, immer so oft und so lange, wie die Halle nicht von Aktivitäten anderer belebt war. Die übrige Zeit stand er alleine abseits. Nur bei diesen für seinen zarten Körper anstrengenden, nicht selten überanstrengenden Übungen verschwanden Heimweh und Bedrängnis vorübergehend, und er suchte nach keinem Ausweg mehr. Dann war vor einigen Tagen der andere Junge hereingekommen und hatte gefragt, ob er mitmachen dürfe. Da hatte er sofort aufgehört und wortlos den Raum verlassen. Obwohl ihn gleich Reue erfasste, wagte er erst nach drei Tagen den Jungen im Pausenhof anzusprechen: Wenn er immer noch wolle, dann könne er ihm am Nachmittag bei seinen Übungen zuschauen, doch fürchte er, dass es ihn langweilen werde, denn Üben sei ständiges Wiederholen. Aber wenn er es wünsche, würde er, ausnahmsweise, eine zusammenhängende Kür für ihn turnen. Auch könnte er ihm gerne ein paar Tricks verraten, wie das Gewicht des Körpers so in Schwung gehalten werden kann, dass die Armmuskeln nicht zu schnell erlahmen, wenn er das wolle. Ich heiße Semi, sagte er, und ich Abram, sagte der andere. Nun hatten sie Namen.
    Zwei Tage später brachte Abram seine Gitarre mit und spielte darauf, während er seine Übungen machte.
    Mit Abram fing das Überleben an im Kloster. Die 25 Tage zuvor waren ein Verschwinden gewesen. Abram konnte bei Semi so viel Interesse für das Gitarrenspiel wecken, dass er selber anfing, dieses Instrument zu erlernen, und umgekehrt gelang es Semi, Abram für die Konzentrationsübung zu begeistern, die für ihn das Turnen am Barren bedeutete. Von dem Moment an, als sie zu zweit waren und nicht mehr jeder alleine abseits stand, gesellten sich auch andere zu ihnen, und es fing noch einmal eine Art von Kindheit an, unfamiliär, über die sie mit den Jahren gut hinausgekommen wären – hätte nicht ein Gott fürsorglich über sie gewacht.
    Anfang Dezember bot ihm der freundliche Pater, der sie zu Schulbeginn in

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