Mittelreich
Empfang genommen hatte und der auch sein Turn- und Sportlehrer geworden war, an, ihn über die vom Stundenplan festgelegte Zeit hinaus zu unterrichten, und das auch an den Ringen und am Reck, wenn er daran interessiert sei. Der Pater hieß Ezechiel. Ihm obliege es, so sprach der Pater weiter, sich um den Bestand des Turnernachwuchses zu kümmern, denn seit einigen Jahren sei es zusätzlich zum Sportunterricht zu einer festen Einrichtung geworden, dreimal im Jahr im Geräteturnen einen Wettbewerb mit anderen Schulen auszutragen, und unsere Turnerriege, so sagte der Pater weiter, gehört seit Beginn dieser Wettkämpfe zu den besten drei, und diesen vorderen Platz versuche ich mit einigem Ehrgeiz zu verteidigen. Deshalb beobachte er während des Turnunterrichts der Neuankömmlinge immer sehr genau, ob außerordentliche Talente dabei seien, so wie es bei ihm, Semi, tatsächlich der Fall sei. Er habe gesehen, dass Semi von Beginn seines Aufenthaltes an nahezu täglich allein geübt habe. Daraus schließe ich, dass dir das Turnen etwas bedeutet und Freude macht. Auf meiner Talentsuche versuche ich dann, wenn ich fündig geworden bin, was nicht oft der Fall ist, die betreffenden Jungs davon zu überzeugen, dass ein zusätzliches Training für den Erfolg beim Wettbewerb unerlässlich ist, da diese Wettbewerbe schließlich als Werbeveranstaltung für die Schule und, in diesem Zusammenhang, weil es sich ja um eine klösterliche Erziehungs- und Bildungsanstalt handelt, auch als Dienst an Gott gesehen werden müssten. Gott mag es, Kinder als seine liebsten Diener zu sehen, fügte der Ezechiel hinzu und lächelte schon wieder. Zumindest steht es so im Katechismus.
Und das war für den Jungen neu, dass die heiligen Gebräuche auch mit einer Leichtigkeit besprochen werden konnten, noch dazu von solcher Seite, denn er hatte bei dem Satz: Zumindest steht es so im Katechismus, eine unverhoffte Ironie im Gesicht des Paters ausgemacht. Zu Hause waren diese heiligen Verwicklungen mit tiefem Ernst verhandelt worden und eine Spötterei undenkbar. Aber nur, wenn du es willst, sagte der Ezechiel, überleg es dir. Dann schob er seine linke Hand behäbig unter die Soutane und fischte mit der rechten nach dem Rosenkranz. Und während er die Perlen an der Kette durch die Finger rollen ließ, zog er unter der Soutane das Brevier hervor, dessen Lektüre er fürs Rekrutieren unterbrochen hatte, und ging Gebete murmelnd Richtung Tür davon. Ich will, ich will, rief ihm da Semi hinterher, bevor der Pater noch die Tür erreichte. – Ich will! Bitte!
Von da an waren sie jede Woche dreimal zusammen alleine in der Turnhalle, und niemand durfte stören.
Wohl kein Raum eines modernen Schulgebäudes symbolisiert eingängiger Ausmaß und gleichzeitige Beschränktheit schulischer Erziehung und Bildung als die Aula, wenn sie, wie meist der Fall, auch als Sporthalle genutzt wird. Sie bietet scheinbar ausufernde Räumlichkeit und Freiheit, wenn man nach dem Unterricht aus dem immer zu eng sich anfühlenden Klassenzimmer kommend in sie hineintritt, genauso wie sie ihre Enge und Begrenztheit zeigt, wenn am Ende eines diszipliniert verlaufenen Sportunterrichts endlich das Spiel zweier Mannschaften gegeneinander freigegeben wird. Dann wird Goethes Satz in umgekehrter Reihenfolge beinah körperlich: »Natürlichem genügt das Weltall kaum, / Was künstlich ist, / verlangt geschlossnen Raum.«
Die schulischen Übungen, das Wiederholen des ständig Gleichen, dass es organisch und nachhaltig werde, um einen begrenzten und brauchbaren, weil überschaubaren Wissensstand haltbar für den Abschluss des schulischen Projekts, die Prüfung, zu machen, die Verkünstelung des Triebes also, dienen der An wendung danach, dem Aufenthalt im selbstverwalteten Leben, nur bedingt – erzeugen aber bei den Meisten die lebenslängliche Beschränktheit, mit der sie danach mit- und untereinander auskommen und sich dem gesellschaftlichen Konsens fraglos ein- und unterordnen.
Das Lernen ist das Wesen des Schulischen. Entfaltung des Gelernten kann in ihm nicht gelingen. Was nach Beendigung der Schulzeit sich vom Schulischen nicht befreit hat, bleibt ihm verhaftet sein Leben lang. Das ist nicht neu, es ist uralt.
Diesen Absatz einer wissenschaftlichen Abhandlung, die im Kloster unter den Schülern weitergereicht wurde und von einem berühmten Pädagogen dieser Zeit verfasst worden war, der in einem privaten Internat im Ober-Hambach-Tal in leitender Stellung unterrichtete und dort
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