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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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alternative Erziehungsmethoden erprobte, hatte Semi unterstrichen, als er Jahre später – er war da schon um die dreißig – altes Papier durchstöberte.
    Dabei spielt es keine Rolle , so geht es in dieser Abhandlung weiter, ob das Schulische sich niederschlägt oder im Schulischen ein anderes, ein Nichtschulisches, sich ins Schulische parasitär eingeschlichen hat. Was über die Schulzeit hinaus haften bleibt und sich nicht mehr löst, bleibt für immer so vorhanden, wie es sich im Frühstadium, ja bei der ersten Begegnung vermutlich schon, gezeigt und angefühlt hat.
     
    Als der Ezechiel ihm zum ersten Mal die Hände an die Hüften legte und ihn mit festem Griff hinaufhob zu den Ringen, da spürte Semi nur die unendlich scheinende Weite des Turnsaals, und er fühlte die Leichtigkeit des Flugs, die Schwerelosigkeit der Luft, die Abwesenheit der Bodenhaftung ... – die Berührung durch des Ezechiels Hände aber spürte er nicht. Die hatte er gar nicht wahrgenommen.
    Später würde sie den Kern all seines Erinnerns bilden. Sie allein würde sich und ihn entfalten in alles Kommende. Der berühmte Pädagoge hat sich selbst recht gegeben, ohne sich selbst gekannt zu haben, wird Semi deshalb als Randnotiz darunter geschrieben haben, wenn er das wissenschaftliche Dilettieren dieses Pädagogen nach Jahren noch einmal nachgelesen haben wird.
    Im Moment aber spürte er alle Beschwernisse der letzten Wochen überwunden. Dieses Gefühl der Befreiung, die Rückkehr seiner Selbstgewissheit machte ihn eine Zeit lang unempfindlich. Auch war er anfangs beinah froh um des Paters Nähe. Die Sehnsucht nach den Berührungen und dem Geruch der Mutter fraß an ihm, stieg wellenartig auf und ebbte ab, jede Nacht bevor er einschlief, ließ seine Tränen quellen, erhitzte seinen Kopf, und kalt wurden seine Beine. Stumm weinte er ins Kissen, bis der erste Traum ihn holte. So ging das beinah jeden Abend seit der Ankunft und hatte seine Wucht noch immer nicht verringert. Die Nähe des Paters war kein Ersatz für die abwesende Mutter – aber war trotzdem Nähe; und nicht ganz angenehm war sie, so fremd wie sie war – aber hielt doch in sich den heftig begehrten Trost durch Berührung für ihn bereit. So sehr waren bei ihm Stolz und sich selbst beschützender Instinkt von der mitleidlos langen Dauer unerfüllter Sehnsucht schon verbraucht. Drum ertrug er in der ersten Zeit nicht ungern des Paters Nähe, wenn der ihm die Geräte wies, und gewöhnte sich allmählich an den moderartig muffeligen Schweißgeruch des Mönchsgewandes und den zwiebeligen Pfefferminzgeruch aus des Ezechiels Mund.
    Erst als der Pater ihm eines Tages, beim Hochheben an die Reckstange, wie aus Versehen, die Turnhose abstreifte und dabei Semis Erektion sichtbar machte, war dieses Gefühl der Befreiung vorbei. Der Ezechiel nahm Semis Erektion in seine Hand, so lang, bis sie erloschen war. Danach zog er Semis Hose wieder darüber.
    Ich werde das niemand erzählen, was dir da gerade passiert ist, sagte der Ezechiel danach mit strenger Gutmütigkeit. Es ist für dich am besten, dass du auch niemand davon erzählst.
    So wurde zwischen ihnen ein geheimer Bund geschlossen, diktiert vom Pater.
    Ezechiels Hilfe für Semi an den Geräten wurde in der Folge intensiv; sein Verständnis für Semis ganz neue Probleme umfassend; und Semis hilflose Hilferufe aus seinem Innern wurden unhörbar. Für immer.
     
    Als die Weihnachtsferien zu Ende waren, wollte Semi nicht mehr von zu Hause weg. Er sträubte sich und begann zu flehen und zu bitten, daheim bleiben zu dürfen. Sein Gesicht und sein Körper zeigten Angst und Panik, als er vom Vater mit zuerst sanfter, dann strenger Gewalt ins Auto geschoben wurde. Als dort sein Widerstand nachließ, ging sein Bitten in ein Wimmern über und wurde eine Wortschleife: bittebittebitte. Aber althergebrachtes Vertrauen in Glaube und Kirche verstopfte Augen und Ohren bei Vater und Mutter: Er sollte doch eine gute Ausbildung bekommen.
    An Ostern erzählte er es seiner Mutter. Sie glaubte ihm nicht. Sie traute sich nicht, ihm zu glauben. Sie wusste nicht, wie sie damit umzugehen hatte. Und schob es weg. Und ihn. Er bilde sich das ein, sagte sie, das seien böse Gedanken, die er habe. Sie wolle so etwas nicht hören. Und jetzt betest du ein Vaterunser und ein Gegrüßetseistdumaria, und nachher denkst du nicht mehr daran! Sagte sie.
     

     
    Als das Dorf am See im 17 . Jahr nach dem Krieg seinen 1200 sten Geburtstag feierte, der ein Jahr zuvor von

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