Mittelreich
markigen Worten. Nicht, dass ihm in dem Artikel mangelndes Einfühlungsvermögen in die Bedeutung des neuen Nationalfeiertags vorgehalten wurde, sondern dass er zum unbedeutenden Dorfbürgermeister herabgewürdigt worden war, das wurmte ihn, und zwar gewaltig. Wenn diesem schmierigen Schmieranten, so bellte er am Telefon die leitende Redakteurin wort wörtlich an, wenn diesem schmierigen Schmieranten nicht das Handwerk gelegt werde, dann werde er, der Bürgermeister, seine Beziehungen zum Führer (das Wort Führer ging und ging ihm nicht aus dem Kopf, und deshalb rutschte es ihm immer wieder in den Mund), seine Beziehungen zum Führer der größten Partei im Land ins Spiel bringen. Der hätte bekanntlich wirksame Beziehungen zur Chefredakteursetage beim Mutterblatt des Seestadtboten , dem Hauptstadtboten nämlich, und dann werde man ja sehen, ob die Redakteurin wirklich noch so notwendig gebraucht werde oder ob es nicht vielleicht ein anstelligeres Talent für diesen Posten gebe. Daraufhin wurde dem Bruck tatsächlich auf der Stelle beim Seestadtboten die Mitarbeit aufgekündigt, und zwei Wochen später war er dann auch gleich aus seiner Wohnung im alten Lothof in Eichenkam ausgezogen und aus der Gegend verschwunden.
Als sich dann ein Jahr später, am Samstag, den 30 . Juni, auf den man sich gerade noch geeinigt hatte, der große Festzug zur 1200 -Jahrfeier in Bewegung setzte, einen Tag nach Peter und Paul, da war von alledem nichts mehr zu spüren, geschweige denn zu erkennen. Der Hubermann und seine Frau gingen bald darauf getrennte Wege: Er nach Mallorca, sie in eine Kommune. Dem Seewirt reichten zur Bewältigung der landwirtschaftlichen Arbeiten die Frau, der Viktor und ein Saisonarbeiter im Sommer. Alles andere wurde von jetzt an mit Hilfe der Maschinen erledigt.
Unauffällig hatte das Fräulein Zwittau weiter vor sich hin gelebt, nachdem des Seewirts Kinder für die Obhut einer Kinderfrau zu alt geworden waren. Feine Zucht war nicht mehr wirksam. Die Kinder verbrachten die ersten Jahre ihrer Schulzeit in der Volksschule in Kirchgrub, vier Tage in der Woche vormittags, zwei am Nachmittag, und die übrige Zeit machten sie Hausaufgaben oder spielten mit anderen Kindern Indianer und Cowboy, oder sie erforschten in der Scheune, im Heu, hoch oben unterm Dach, mit ausgewählten Nachbarskindern ihre Körper – ohne Anleitung durch Erwachsene. Im Sommer mussten sie bei der Heuernte helfen und im Herbst beim Kartoffelklauben. An den Abenden spielten sie am Küchentisch Mensch-ärgere-dich-nicht oder Mühle und Halma. Der Seewirt versuchte ihnen manchmal Schach beizubringen, aber darauf wollte sich noch keines wirklich einlassen. Sie beschäftigten sich bereits mit sich selber, die Kinder des Seewirts. Das Fräulein Zwittau wurde nicht mehr gebraucht. Es wurde noch geachtet, aber nicht mehr gebraucht. Als die Kinder später dann in Internaten untergebracht waren und der Blick der Seewirtin leidend geworden, legte sich auch auf die Augen des Fräuleins ein matter Schimmer. Bis dahin hatte es immer noch, obwohl selbst nicht mehr daran beteiligt, interessiert die weitere Entwicklung der Kinder beobachtet. Jetzt, da diese aus des Fräuleins teilnehmender Nähe verschwunden waren, schien auch das Fräulein keine Interessen mehr zu haben. Es zog sich von der Betrachtung der Welt endgültig zurück. Fast.
Es war ein nach Mist und Erde riechender Frühlingstag Mitte April – das Gras wucherte noch halbnah am Boden, war aber schon vollgesogen mit fettem, dunklem Grün, das an diesem Tag zum ersten Mal im jungen Jahr mit schwarzen Gewitterwolken am Himmel zu bleischwerer Harmonie zusammengeflossen war, die sich als schwüle Wetterlage noch einmal, ein letztes Mal, betörend aufs auflebende, schon frühlingshaft gestimmte Gemüt der Menschen legte: Auswirkungen des allerletzten Bleibeversuchs des Winters bei seinem zögerlichen Rückzug – als der ewige Spaziergänger Herr Sommer ein nacktes, schreiendes Kind durchs dichte Unterholz, das am Fußwegrand zwischen Oberseedorf und Kirchgrub wucherte, hervorbrechen sah und in seiner Vergeistigung zuerst gar nicht wusste, wie er reagieren sollte. So griff er, voll Hilflosigkeit, zu einem ganz unlauteren Mittel und warf sich, zuckend und um sich schlagend, auf den Waldweg, einen epileptischen Anfall vortäuschend, den er, als anerkannter Epileptiker, vom Bewegungsablauf her bis ins kleinste, glaubwürdige Detail hinein beherrschte. Das vom erzwungenen Einblick in ein
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