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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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vergessen, teilt sich da schon eine Krakenzelle in ihr? Aber nein, heute ist Mittwoch, heute hat sie Französisch in der Sieben B unterrichtet, Gott sei Dank, noch einmal Glück gehabt.
    Mehr Glück als Sonja allemal, denn Sonja wünscht sich das, was Marie zu verhindern sucht: ein kleines Glück, ein kleines Klammertierchen. In den Armen will sie das neue Leben wiegen, doch wie soll das funktionieren, jetzt, wo sie wieder allein ist und ganz von vorne beginnen muss? Die Männer kommen, wie sie wollen, in Sonjas Wohnung hinein und aus Sonjas Wohnung heraus, in und aus Sonja selbst. Bald wird sie dreißig, und wieder steht sie allein da. Arme Sonja. Also probiert sie es über das Internet, die große Wundermaschine.
    Alle Menschen sind auf der Suche nach ein bisschen Glück, nach ein wenig Sinn in ihrem Leben. So sucht Marie nach der Liebe in sich und findet sie nicht, so sucht Sonja nach einem, der sie ein bisschen lieb hat. Nur Jakob hat gefunden, was er gesucht hat: Marie, Marie und wieder Marie. Sie beflügelt seine Gedanken, erleichtert ihm den Alltag, alles ist auf einmal viel bunter und schillernder, und so ein berauschter Zustand wirkt sich bekanntlich positiv auf die Arbeit aus. Wie ein Besessener jagt er Lichtteilchen durch den Tunnel, hat eine Idee, geht seinem Riecher nach, und tatsächlich kommt er dem Fehler auf die Spur, nach dem die Gruppe so lange gesucht hat. Endlich geht etwas weiter, klopft man ihm auf die Schulter, sogar der Professor gibt sich zufrieden.
    Jakob kommt glücklich nach Hause, wirbelt Marie im Kreis, und Marie, die noch keine fünf Minuten zuvor im Zweifel lag, ob sie die Beziehung mit Jakob überhaupt will, ob es nicht besser wäre, früher als später zu gehen, lässt sich von Jakobs Begeisterung mitreißen.
    Zur selben Zeit steht Gery auf der Rossauer Brücke und sieht auf das dunkle Wasser des Donaukanals. Seit Wochen schon hetzt er wie ein Getriebener durch die Stadt, von einem Lokal zum nächsten, von einer Brücke zur anderen. Als wäre die Langeweile, von der Joe immer gesprochen hat, mit einem Satz auf ihn übergesprungen, wie eine Laus von einem zum anderen Kinderkopf.
    »Vor der Langeweile«, sagte Joe, »fürchten wir uns mehr als vor dem Sterben! Erst wenn man nichts mehr zu tun hat, erst wenn man wirklich frei ist, kann man der Langweile als das begegnen, was sie ist: ein riesiges geschältes Hühnerei, groß, schwabbelig, farblos. Und innen drin der gelbe Kern, die Erkenntnis des menschlichen Seins, nämlich dass es keinen Sinn gibt. Der Mensch ist nicht besser als das Tier, ein reines Zufallsprodukt, eine Laune der Natur, so wie der ganze beschissene Planet. Eine Lösung unter Milliarden von Lösungen. Nur dass der Mensch im Gegensatz zum Tier denken kann, Vergangenheit und Zukunft hat. Und ebendas versucht er seit jeher zu verdrängen, indem er sich mit Arbeit zudeckt, sich verknechten lässt, von den Vorgesetzten, der Familie und den Freunden. Wer beschäftigt ist, hat keine Zeit zu denken, und wer nicht denkt, der begreift das ganze Ausmaß der Sinnlosigkeit nicht. Oder warum glaubst du, haben wir den ganzen Lärm erfunden, die Baumaschinen, die dröhnende Musik? Was ist das anderes als das Ritual primitiver Buschbewohner, die irgendeinem Götzen huldigen, den es nicht gibt? Wenn du einmal tot bist, kräht kein Hahn mehr danach, was du aus deinem Leben gemacht hast. Zwei Tage später haben sie dich vergessen.«
    Gery bläst Rauchkringel aus. Starrt auf die Stelle, an der Joe ins Wasser gesprungen und nicht wieder aufgetaucht ist.
    Hatte Joe seinen Sinn im Leben gefunden? Kann der Sinn allein darin bestehen, auf einer Brücke zu stehen und auf Weingläsern zu spielen? Zwei oder drei Kinder zum Lachen zu bringen? Und ist es wirklich erst drei Monate her, dass Joe ertrunken ist? Gery kommt es wie eine Ewigkeit vor. Und das mit der Ewigkeit, denkt er, das wird schon stimmen, denn das Wasser, das Joe in die Lungen getreten ist, und das er anfangs noch ausgespuckt haben muss, ist längst die Donau hinuntergeflossen. Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Rumänien, Moldawien, Ukraine, Donaudelta. Dunaj, Duna, Dunav, Dunârea. Und es ist seine, Gerys Schuld.
    Er hätte ihm nachspringen müssen. Hätte nicht einfach gehen dürfen, als Joe nach zwanzig Minuten immer noch nicht aufgetaucht war. Aber woher hätte er wissen sollen, dass es diesmal ernst war? Dass Joe nicht wieder hinter einem Gebüsch hervorspringen würde,
Puh!
, so wie in jenem Sommer vor vier Jahren, als Joe

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