Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Eine alte Vettel, weiter nichts.
Und jetzt ist er wirklich da, jetzt backen sie gemeinsam Kuchen. Gery wiegt die Zutaten und Hedi verrührt alles miteinander. Dabei fallen ihr ein paar Tränen in den Teig, dicke, salzige Tropfen. »Na siehst du«, sagt sie, »jetzt haben wir die Prise Salz auch gleich!«, und Gery dreht sich zu ihr um und sagt: »Schade, dass ich nicht früher auf die Welt gekommen bin, ich hätte dich vom Fleck weg geheiratet!«
Wie eine zarte Daunenfeder schwebt das Du durch den Raum, erhebt sich über dem Herd in die Lüfte und lässt sich schließlich auf Hedis Schulter nieder.
Danach sitzen sie einander im Wohnzimmer gegenüber, Hedi in ihrem Schaukelstuhl, Gery auf dem geblümten Sofa. Der Gugelhupf ist noch warm, klebrig süß legen sich die Rosinen um Hedis Zähne, aber das macht nichts, mit zweiundachtzig ist das Zähneputzen eine Sache, die unter dem Wasserhahn geschieht.
»Du solltest dir ein nettes Mädchen suchen und deine Zeit nicht mit einer alten Frau wie mir verschwenden«, sagt sie und sieht ihm dabei zu, wie er die Rosinen, die er nur ihretwegen in den Teig gerührt hat, wieder aus dem Kuchen pickt.
»Blödsinn. Die Liebe ist ein Hirngespinst«, sagt er.
»Als ich in deinem Alter war, war die Liebe etwas Schönes.«
Hinter dem Glas der Wohnzimmervitrine lächelt ein Mann aus einem Silberrahmen heraus. Breite Schultern, dünner Schnauzbart, wie mit Bleistift gezeichnet. Oben am Kopf der klare Scheitel, weiß teilt er die dunkle Haarpracht in zwei ungleiche Hälften. Auf dem Stuhl vor ihm eine Frau mit gewelltem Haar. Hedi sieht Gery zu, wie er die Fotografie betrachtet. Wie er sie erkennt und doch wieder nicht erkennt.
»Dein Hirngespinst?«, fragt Gery.
Hedi lacht. »Mein verstorbener Mann. Hirngespinste werden selten zu Ehemännern.«
Hinter den Vorhängen verharrt das Wetter in der Luft und steht ein paar Sekunden lang still. Dann zerplatzen dicke Tropfen auf dem Fensterbrett.
»Soll ich das Fenster schließen?«, fragt Gery und stellt den Teller ab.
»Nein, bleib sitzen. Ich mag Gewitter.«
Und wenn er wirklich auf eine Erbschaft hofft, denkt Hedi, ist mir das auch egal. Wer hat schon das Glück, mit zweiundachtzig noch einmal seinem Hirngespinst in die Augen sehen zu dürfen?
12 Der Oktober bringt den Regen, der Donaukanal steht so hoch wie das ganze Jahr nicht, Straßen und Parks stehen unter Wasser, und auch die Wien fließt endlich wieder. Kanäle und Gefühle laufen über, Kehlköpfe werden mit Melancholie gefüllt, Frauenaugen platzen auf und rinnen aus. Eine Welle der Depression hängt über der herbstlich verfärbten Stadt und erfasst Marie, erfasst auch Sonja, und so sitzen beide zu Hause, die eine auf dem gelben Designersofa vor dem Flachbildschirm, die andere zwischen Katzenhaaren und Zigarettenstummeln. Es lebe das Selbstmitleid, es lebe die Depression!
Jakob, der Auslöser der ganzen Heulerei, jongliert inzwischen mit Pumplasern, Spiegeln und Kristallen, teleportiert Quantenzustände und wertet Forschungsergebnisse aus. Von Maries Tränen weiß er nichts, Sonjas Tränen interessieren ihn nicht mehr.
Warum heulen die beiden so? Gut, Sonja ist von Jakob verlassen worden, aber Marie? Sie hat ihn doch, ihren Jakob, der einmal Sonja gehört hat, ganz und gar hat sie ihn, mit Haut und Haar und mit seinen Socken, die er immer bei ihr liegen lässt. Aber vielleicht sind es ja gerade seine Socken und die fein säuberlich aufgerollte Zahnpastatube (das hat er von Sonja gelernt), die sie so zum Weinen bringen. Alles lässt er hier, alles häuft sich an. Wie stille Untermieter bevölkern Jakobs Dinge Maries Wohnung, nehmen alles in Beschlag und glotzen ihr entgegen. Sieh her!, schreien sie ihr ins Gesicht, uns gibt es auch noch, dass du uns nur ja nicht vergisst, dass du nur ja deinen Jakob nicht vergisst! Und wie sollte sie ihn auch vergessen, jede Nacht liegt er wie der Gekreuzigte in ihrem Bett, macht sich breit, die Arme weit von sich gestreckt, und plötzlich ist sie sich gar nicht mehr so sicher, ob sie diesen Körper in ihrer Wohnung haben will, diese Riesenkrake, die nachts ihre Fänge nach ihr auswirft und ihren Körper umschlingt, an sich presst, bis sie gar nicht mehr weiß, woher sie die Luft zum Atmen nehmen soll.
Marie steht im Badezimmer, in der Hand eine kleine, mit Aluminium beschichtete Pappscheibe, und rechnet nach: Montag, Dienstag, Mittwoch. Heute ist doch Mittwoch, oder? Oder ist schon Donnerstag, hat sie ein weißes Kügelchen
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