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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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ihn das erste Mal zur Rossauer Brücke mitgenommen hatte? Damals wusste Gery noch nicht, wie oft sich Joe von Brücken fallen ließ, damals stolperte er noch mit wild pochendem Herz die Treppen hinunter, lief am Ufer entlang und schrie wie ein Verrückter: »Joe, Scheiße, Joe!« Völlig aus dem Häuschen war er, wollte schon zur Polizei, als es plötzlich in einem der Büsche am Ufer raschelte und: »Puh!«
    Joe machte sich vor Lachen fast in die Hose, schüttelte sich wie ein nasser Hund und ließ das Wasser nach allen Seiten spritzen. Danach setzte er sich in den nassen Kleidern auf die Brücke, sagte: »Nimm das Leben nicht so verdammt ernst«, nahm sich eine von Gerys selbstgedrehten Zigaretten und tat so, als wäre nichts geschehen.
    Jetzt fragt sich Gery, was Joe damit gemeint hatte. Nimm das Leben nicht so verdammt ernst, es ist nicht tragisch, wenn man es verliert? Was, wenn er es verlieren wollte? War Joe jemand, der sich so lange fallen ließ, bis es endlich klappte? Waren Joes Sprünge von der Rossauer Brücke wie die Schlaftabletten, die manche schlucken, nur um sich danach den Magen auspumpen zu lassen und doch noch einmal mit dem Leben davonzukommen? Beim zehnten Mal nimmt dich keiner mehr ernst. Und Joe war ja jedes Mal wieder aufgetaucht. Manchmal blieb er noch ein wenig unter der Wasseroberfläche, trieb das Spiel auf die Spitze, aber spätestens als Gery in aller Ruhe auf der Brücke stehen blieb und sich einen Joint drehte, wurde Joe das Ganze zu langweilig.
    Gery lässt die Kippe in den Donaukanal fallen und sieht dem roten Punkt nach, wie er kreiselnd ins Wasser fällt und erlischt.
    Vielleicht wollte Joe den Sprung auf Band haben. Und dann ist etwas schiefgelaufen. Er hat sich den Kopf angestoßen und den Weg nach oben nicht mehr gefunden.
    Eines muss hier nämlich festgehalten werden: Als Joe an seinem letzten Abend in den Donaukanal sprang, hielt Gery das Objektiv direkt auf ihn gerichtet. Joes finaler Sprung ist also eingebrannt in eine 4-Gigabyte-Speicherkarte der Marke SanDisk. Auf der sitzt Joe am Geländer, streckt die Arme zur Seite und grinst. Dann sagt er: »Vergiss mich nicht, Alter« und lässt sich nach hinten fallen.
    Seit diesem Tag hat Gery die Kamera nicht mehr in die Hand genommen.

13  Wie jede Stadt hat auch Wien ihre Spezialitäten. Wer weiß schon, dass der Cappuccino ursprünglich aus Wien kommt? Heute kennt man das Wort Kapuziner nur mehr im Zusammenhang mit der Kapuzinergruft, und nur wenige Wirte, wie Pavel Palicini, führen den Kapuziner unter den Heißgetränken. Vielleicht kommt es daher, dass sich der rundliche Palicini als Abkömmling einer sizilianischen Mafiafamilie gegen den Cappuccino verwehrt. Pavel Palicini hat es nicht so mit der väterlichen Gewalt, er hat es mehr mit den mütterlichen böhmischen Wurzeln.
    Seine Palatschinken mit Powidl und Sauerrahm sind es auch, die Kurt alle paar Wochen ins Palatschinkenpfandl locken. Die Palatschinken und die Philosophenrunde, die sich in unregelmäßigen Abständen im Hinterzimmer des Gasthauses trifft. Da wird die Welt verändert, werden Theorien geboren und Pläne geschmiedet und nie in die Tat umgesetzt, während vorne in der Gaststube Touristen Wiener Schnitzel und Schokoladepalatschinken bestellen.
    »Man müsste die Politiker alle erwürgen«, meint Kurt und schiebt die schlanke Nase am Rand der Zeitung vorbei.
    Er ist einmal ein fescher Mann gewesen, das sieht man ihm auch heute noch an. Gerade Nase, dichte geschwungene Augenbrauen, kantiges Gesicht, drahtige Figur. Nur der lange weiße Bart mit der bunten Schleife will nicht so recht ins Bild passen, über den haben schon viele den Kopf geschüttelt, aber die wissen ja auch nicht, dass es sich bei Kurts Bart um ein Andenken handelt. Elf Jahre Indien, samt Kloster und fehlgeschlagenem Resozialisierungsprojekt. Den Unberührbaren hat Kurt nicht helfen können, also ist er nach Österreich zurückgekommen und hat bei der Post begonnen. Seinen Bart und den buddhistischen Glauben hat er behalten. Durch und durch sanft, von den Zehennägeln bis zu den Haarwurzeln. Nur die Politiker kann er nicht leiden, denen wünscht er das Allerschlimmste.
    »Politiker sind wie Obstfliegen«, sagt der rundliche Palicini und gießt den Palatschinkenteig in die Pfanne. »Erschlägst du eine, kommen zehn neue nach.«
    Da hat er recht, denkt Kurt, als Mistkäfer werden sie sterben, als Mistkäfer sollen sie wiedergeboren werden. Er reibt sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen,

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