Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Gesichtsausdruck weiter. Joe setzte die Marionette aufs Geländer und rief den beiden mit krächzender Stimme hinterdrein: »Heute fahr ich nach Avignon, um sieben Uhr geht mein Zug!«
»Warum ausgerechnet Strauss?«, fragte Gery, als er die Kamera senkte.
»Oh, der Strauß ist mein Alter Ego«, sagte Joe. »Mein verdrängtes Ich, mein Unbewusstes. Wo ich doch Schreyvogl heiß.« Er verbeugte sich. »Johannes Schreyvogl!« Dann lachte er. »Stell dir vor: Ich liebe eine, die hat sogar noch einen scheußlicheren Namen als ich.«
Gery erinnert sich an den Ausdruck in seinen Augen, als er Maries vollen Namen aussprach: »Laetitia Maria Steinwedel.« Als er anhängte: »Laetitia, wie die Freude.« Die kleinen Fältchen, die sich dabei in Joes Augenwinkeln ausbreiteten. Nie hat Gery jemanden kennengelernt, der vernarrter in eine Frau gewesen ist.
»Weißt du, was du suchst?«, fragte Joe ihn, das muss dann schon ein paar Monate später gewesen sein.
»Was denn?«, fragte Gery.
»Die Liebe.«
»Die Liebe? Ich dachte, lieben können nur die, die nicht ficken? Das sagst du doch selbst immer: Die Liebe spielt sich im Kopf ab, aber wenn du sie leben willst, verschwindet sie, und übrig bleibt nur ein schales Gefühl.«
Joe sagte nichts, starrte nur hinunter und blies den Rauch seiner Zigarette auf die Geleise. Und dann lief auf einmal dieses Dromedar über die Brücke, einfach so, ausgebüxt aus Schönbrunn, über die Allee zur Schmelzbrücke und von dort Richtung Stadthalle. Als hätte Joe es bestellt. Zuerst dachte Gery, dass es vielleicht an den Joints lag, die sie geraucht hatten, doch am nächsten Tag stand es in allen Zeitungen.
»Weißt du, Marie war mein Engel«, sagte Joe, als wieder Ruhe auf der Brücke eingekehrt war.
Marie, Marie, immer nur Marie.
Das war schon eine verrückte Sache zwischen den beiden. Sie hatten einander in der Psychiatrie kennengelernt. Warum Joe dort war, weiß Gery bis heute nicht genau. Joe lachte immer nur, wenn er davon sprach. Aber Maries Mutter soll aus dem Fenster gesprungen und direkt neben einem Kaffeehaustisch gelandet sein. Mitten zwischen Kaffee trinkenden Italienern und einer Gruppe fotografierender Japaner. Die hatten Glück, dass der Mutterkörper nicht auf einem von ihnen gelandet ist. So was muss man schon einmal verkraften als Neunjährige. So alt war Marie nämlich, als ihre Mutter sprang. Als Marie und Joe einander in der Psychiatrie kennenlernten, war sie jedoch schon sechzehn. Joe war dreizehn und verliebte sich augenblicklich in sie.
»Wenn du das Gleichgewicht verlierst, bringt dich der Zug weiß Gott wohin. Vielleicht auch nach Palermo.«
Joe saß am Geländer und ließ die Beine hinunterbaumeln.
»Palermo liegt im Süden«, entgegnete Gery. »Hier fahren die Züge Richtung Westen. Nach Deutschland und Frankreich.«
»Maries Mutter war aus Palermo«, sagte Joe nur.
Marie. Kleine Laetitia Marie. Glücklich hat Joe sie trotz all seiner Liebe nie gemacht.
Gery klappt den rosafarbenen Stuhl zusammen und trägt ihn über die Stufen in die Zwölfergasse.
Vorhin, auf Joes Beerdigung, hat sie wohl geglaubt, hinter diesem Busch unbemerkt bleiben zu können, aber Gery hat sie trotzdem gesehen. Seitdem wird er das Gefühl nicht los, dass das erst der Anfang ist.
10 Und wieder steht die Straßenbahn. Alter Mann von rechts, und aus der Traum vom Vorwärtskommen. Was müssen die auch immer wieder bei Rot über die Kreuzung rennen, denkt Jakob, als Pensionist hat man es doch sowieso nicht mehr eilig.
Was für ein Irrglaube, als Pensionist hast du es nämlich ständig eilig. Jenseits der fünfundsechzig geht es schließlich um jede Minute. Und Bertl Schäffer musste die Straßenbahn unbedingt erwischen. Blöd nur, dass er übersehen hat, dass aus der anderen Richtung auch eine Garnitur kam.
Der Tod geht um in Wien, aber das ist nichts Neues.
Bertl Schäffer liegt auf den Geleisen, und der Fahrer der Wiener Linien wird deswegen vielleicht seinen Job verlieren. Kreidebleich beugt er sich über den Alten. »Das gibt’s doch nicht, von so ein bisserl Anrempeln«, murmelt er.
Bertl gibt keinen Ton von sich, er singt jetzt im Engelschor, und seine Tochter Hannah wird sich freuen, dass er nicht mehr dazu gekommen ist, sein Geld dem Roten Kreuz zu spenden. Gerade hat er es zur Bank tragen wollen, deswegen hat er es ja so eilig gehabt.
Das alles interessiert weder den Straßenbahnfahrer, der sofort den Einsatzwagen der Wiener Linien, die Polizei und die Rettung
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