Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
verständigt, noch die Fahrgäste, die fluchend den Waggon verlassen. Warum werfen sich diese Selbstmörder ausgerechnet dann vor den Zug, wenn sie drinsitzen?
Jakob schließt sich den diskutierenden Passagieren an, keuchend, fluchend und schwitzend wälzt sich die träge Masse stadteinwärts. Mittendrin auch Professor Blasbichler, Schweiß auf der hohen Stirn.
»Grüß Sie Gott, Herr Professor!«, ruft Jakob und verlangsamt seinen Schritt, denn am Professor vorbeizueilen könnte der eigenen Karriere schaden.
Während Jakob auf den Professor einredet, steht Marie an der Kinokasse und denkt an Joe. Dabei hat sie doch jetzt Jakob. Aber so ist das bei uns Menschen, der großen Liebe meint man nur einmal zu begegnen. Ab dem zweiten Mal kann man nicht mehr sagen: »Das ist meine zweite große Liebe«, wo würde das hinführen, dann gäbe es ja irgendwann zehn davon. Aber wenn es die große Liebe nur einmal gibt, was hat das für den Rest des Lebens zu bedeuten? Oder war das mit Joe gar nicht die große Liebe? Warum kann Marie nicht aufhören, jeden Mann mit ihm zu vergleichen? Dabei würde sie es so gerne hinbekommen: eine richtige Beziehung. Gemeinsame Abende im Kino, danach durch die Innenstadt spazieren und noch irgendwo auf ein Getränk einfallen. Oder einfach nur vor dem Fernseher sitzen, Arm in Arm, die Chipstüte auf dem Bauch. Stattdessen rotzt sie Erinnerungen hoch, immer wieder Joe, und nochmals Joe, jedes Mal steht er hinter ihr, legt ihr die Hände auf die Schultern und flüstert ihr ins Ohr: Kannst du dich noch erinnern, wie es bei uns war, damals gab es nur uns zwei, und alles andere war uns egal.
Verdammt, ja, ich kann mich erinnern, das ist ja mein Problem!, schreit es in ihr. Ständig diese Rückschau, was bringt mir das denn, lass mich doch endlich in Ruhe, du bist tot, tot, tot! Und davor warst du auch schon tot, alles hast du kaputt gemacht, was heißt hier, es gab nur uns zwei, mit wie vielen anderen hast du denn noch gefickt? Nie bist du gekommen, wenn ich dich gebraucht habe. Wir zwei? Dich gab es, dich, dich, immer nur dich!
Marie sieht auf die Uhr. Und was, kommt es ihr plötzlich in den Sinn, wenn Jakob genauso ist? Wenn er sie hier stehen lässt, irgendwo hängen bleibt, so wie Joe immer hängen geblieben ist, bei irgendeinem Bier, irgendeinem Spiel, irgendeiner Frau?
An der Kinokasse drängen sich die Besucher. Sie sollte sich um die Karten anstellen, bis zum Filmbeginn sind es nur noch zehn Minuten. Jakob wird jeden Moment bei der Tür hereinkommen, sie in den Arm nehmen und sich für die Verspätung entschuldigen. Warum auch nicht, warum sollte er so sein wie Joe?
In ihrem Magen rumort es. Warum ist sie auf einmal so nervös?
Sie stellt sich vor die Tür und fischt nach den Zigaretten. Da sieht sie Jakob auch schon an der Ampel stehen, grinsen und winken. Und da man die Liebe hauptsächlich dann als besonders stark empfindet, wenn man nicht weiß, ob sie erfüllt wird, brennt die Leidenschaft in Maries Bauch gleich ein bisschen weniger heiß.
11 Auch Hedi Brunner ist an diesem Abend nicht allein. Vorhin ist Gery gekommen, eine Flasche Rotwein und ein gelbes Einkaufssackerl in der Hand, und dann haben sie gemeinsam einen Rosinengugelhupf gebacken.
Hedi hat gar nicht zu hoffen gewagt, dass der junge Essensausträger wirklich kommen würde. Zwei Tage ist es nun her, dass sie ihm den Cognac eingeschenkt hat, weil er über Übelkeit geklagt hatte. Dass sie ihm das kleine Schnapsglas hingehalten und gesagt hat: »Sie erinnern mich an jemanden, den ich vor langer Zeit einmal gekannt habe.« Dass er das Glas in seiner Hand gedreht, und sie gedacht hat: Jetzt bin ich zu weit gegangen, und dass er noch in ihr Denken hinein auf einmal gesagt hat: »Wenn Sie wollen, komm ich Sie einmal besuchen, dann können Sie mir von früher erzählen.«
Dann hat er ihr das leere Glas in die Hand gedrückt und ist die Treppen hinuntergesprungen. Und sie ist völlig verdattert im Flur stehen geblieben und hat nicht gewusst: Hat er das jetzt ernst gemeint, oder macht er sich nur einen Spaß daraus, die Alten, die er beliefert, auf den Arm zu nehmen?
Immer wieder hat sie seitdem seinen Satz in Gedanken wiederholt.
Wenn Sie wollen, komm ich Sie einmal besuchen.
Immer wieder diesen einen Satz, und immer wieder hat sie sich gesagt: Sei nicht so dumm, warum sollte er kommen, was hat er denn davon? Verhört wirst dich haben, und wenn nicht, dann hält er dich eben zum Narren. Wer bist du denn schon für ihn?
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