Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
ist ein Fotoalbum mit einem ledernen Schuber. Mit dem Pulloverärmel wischt Marie Staub und Wasser ab. Dann lehnt sie den Mop gegen den Türrahmen, setzt sich aufs Bett und schlägt das Album auf. Sieht ihrem jüngeren Ich ins Gesicht. Lachend sitzt sie am Schoß der Großmutter, auf dem Kopf ein weißer Rüschenhut mit roten Punkten, darunter dunkle Locken und Babyspeck, eine kleine winkende Hand. Auf einem anderen Bild ist sie am Schoß der Mutter. Die Mutter blinzelt gegen die Sonne und hält sie mit ihren langen zarten Fingern um die Taille gefasst.
Ninna nanna coccolo della mamma.
Marie streicht über ihr Gesicht, blättert um.
Laetitia Maria, 48 cm, 3220 g
, hat der Vater mit schwarzer Füllfeder eingetragen. Darüber ein verrunzeltes Gesicht, dunkle Haut, flaumbehaarter Kopf.
Sie blättert weiter. Dorthin, wo es keine Laetitia Maria mehr gibt, kein lachendes Kindergesicht. Die Großmutter, die Mutter und der Vater stehen vor dem geschmückten Christbaum, der Vater in der Mitte. Man sieht ihm an, dass er gelaufen ist, sich schnell positioniert hat, rechtzeitig, bevor der Selbstauslöser klickt. Dann die Mutter mit weißen Blumen im Haar, der Vater mit glückseligem Blick daneben. Hände schüttelnde Männer, küssende Frauen. Die Nonna und die Großmutter nebeneinander, beide mit feuchten Augen. Blasse, vergilbte Fotos, mit posierenden, lächelnden, sich umarmenden Menschen. Ein Foto vor dem Haus der italienischen Großmutter. Sie stehen auf der kleinen Stiege, die Nonna und die Mutter vorne, der Vater eine Stufe höher. Die Mutter und der Vater strahlen, nur die Nonna steht mit ins Gesicht gezogenen Furchen auf dem Treppenabsatz und blickt streng in die Kamera.
Marie hat ihre sizilianische Großmutter nur dreimal gesehen. Sie erinnert sich, wie die Nonna sie fest an ihren Busen drückte und weinte. Ihre Tränen blieben auf Maries Wange kleben und spannten auf der Haut. Das Weinen der Nonna war ein fröhliches, immer wieder unterbrochen von Gelächter und italienischen Worten. An das Haus kann sich Marie nicht erinnern. Nur den Herd sieht sie vor sich. Die Nonna steht im Morgenmantel davor und rührt im Milchtopf. Lächelt zu ihr hinunter. Sie kochte die beste Trinkschokolade. Dickflüssige, heiße Schokolade, die wie Pudding schmeckte.
Ganz vorne im Album steckt die Trauerpate. Tante Rosalia teilt den Tod ihrer geliebten Schwester (
dell
’
amata sorella
) Grazia Anna Falletta mit, die am sechsundzwanzigsten August zweitausendundfünf nach kurzer schwerer Krankheit gestorben ist.
Marie fragt sich, wann sie das letzte Mal an die Nonna gedacht hat. Natürlich, wenn sie nach Italien gefahren ist. Das waren die Momente, in denen sie sich gefragt hat, ob die Nonna noch lebt, und ob sie manchmal an sie denkt, so wie sie manchmal an sie alle denkt. An die Nonna, an Tante Rosalia und an ihre Großcousine Angela, die gleich alt war wie sie und mit der sie einen Sommer lang gespielt hat. Aber so schnell, wie die Gedanken aufgetaucht sind, sind sie auch wieder verschwunden. Marie hat nie ernsthaft daran gedacht, nach Palermo zu fahren. Rom, Mailand, Florenz, ja. Aber Sizilien? Als Tourist mit dem Rucksack nach Palermo?
Sie sieht auf die Uhr. Bis zum nächsten Zug hat sie eine Dreiviertelstunde. In ihrer Tasche liegen noch immer sechs unkorrigierte Schularbeitshefte. Sie wird sich im Zug darum kümmern, zweieinhalb Stunden Fahrt sind Zeit genug. Sie packt das Album und die Briefe in die kleine Reisetasche, leert den Aschenbecher ins Klo und spült so lange nach, bis der letzte Filter verschwunden ist. Dann schlüpft sie in die Jacke und schließt das Fenster. Dreht sich noch einmal um, um nachzusehen, ob sie alle Lichter ausgeschaltet hat. Jetzt riecht es wieder nach Zigaretten, denkt sie und ärgert sich über sich selbst. In zwei Wochen, wenn ich das nächste Mal hierherkomme, wird der Geruch verflogen sein. Ich werde Papa an beiden Wochenendtagen besuchen können, und dazwischen werde ich auf den Schlossberg gehen und durch die Herrengasse spazieren. In zwei Wochen haben die Adventsmärkte geöffnet, wird es nach Punsch und Zimt riechen. Danach werde ich mich auf das Sofa der Großmutter setzen und ein Buch lesen. Und vielleicht will Jakob ja auch einmal mitkommen.
Im Zug streift sich Marie die Schuhe von den Füßen und legt die Beine hoch. Wie ein riesiges Kuscheltier lehnt sich die Nacht gegen die Scheiben und zeigt den Fahrgästen die eigenen, in der Scheibe verzerrten Gesichter. Marie denkt an die Nonna,
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