Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
die immer ein wenig nach Dosensardinen gerochen hat. In Bruck an der Mur zieht sie die blau eingebundenen Hefte aus der Sporttasche und verbessert die restlichen Schularbeiten. Als in Wiener Neustadt eine alte Frau zusteigt, ist Marie eingeschlafen. Die Alte stellt ihre Handtasche auf einen der leeren Sitze und betrachtet die Schlafende. Kurz vor Meidling legt sie ihre Hand auf Maries Oberarm. »Wir sind bald da. Vergessen Sie das Foto nicht, das auf dem Boden liegt.«
Verwirrt sieht Marie aus dem Fenster. Draußen ziehen die Lichter der Stadt vorbei: Straßenlaternen, erleuchtete Fenster, Reklametafeln. Die alte Frau verabschiedet sich und verlässt das Abteil. Marie streckt sich. Tatsächlich, auf dem Boden liegt eines der Fotos. Es muss aus dem Album gefallen sein. Als Marie es aufhebt, sieht sie einen etwa vierzigjährigen Mann. Sie hat das Foto beim Durchblättern gesehen, aber nicht weiter beachtet. Die Haare des Mannes sind voll und dunkel und an den Seiten nach hinten gekämmt, nur über die Stirn fällt ihm eine entkommene Strähne. Darunter stehen seine geschwungenen Augenbrauen, wie aufgemalt. Die Augen liegen tief in den Höhlen und blicken scharf in die Kamera. Der schmale Mund ist zu einem freundlichen Lächeln gezogen. Vor dreißig Jahren hat mein Vater wirklich sehr gut ausgesehen, denkt Marie.
11 Der Advent schillert in leuchtenden Farben und verwandelt den Graben in einen riesigen Ballsaal, von dessen Decken gigantische Luster ihr Licht auf Mützen und Wollhauben spritzen. Wie jedes Jahr rennen die Wiener von Geschäft zu Geschäft, wühlen in Kisten mit knopfäugigen Stofftieren, bestaunen Modelleisenbahnen und streicheln über gelockte Puppenköpfe. In den Küchen wird Teig angerührt, wird geknetet, gerollt und ausgestochen, kleine Kinderhände mit schwarzen Rändern unter den Nägeln bohren ihre Fingerkuppen in die weiche Masse (»Schau, Mama, das sind die Augen vom Lebkuchenmann!« – »Pfui, geh dir erst mal die Hände waschen!«). In der Innenstadt schießen Weihnachtsmärkte aus dem Boden, mit Zuckerwatte und Maroni, mit weißen Hündchen und grünen Würmern mit flauschigem Fell und breitem Sprechmaul, da will man gleich selbst hineinschlüpfen, seine Wange an den weichen Plüsch schmiegen, wieder kleines Mädchen sein, aber wie sähe das aus, so ganz allein, ohne zu beschenkendes Kind, das würde höchstens das eigene Versagen demonstrieren, und wer präsentiert schon gern seine dunklen Seiten in einer Lichterglanzzeit wie Weihnachten? Lieber kuschelt man sich eng an den anderen, denkt ans Zusammenziehen, an den eigenen Christbaum und einen dicken Bauch unter dem Wintermantel.
Weihnachten ist die Zeit der Illusionen, deswegen bäckt Marie Weihnachtskekse. Nichts stellt sie sich schöner vor, als mit Jakob vor dem Adventskranz zu sitzen. Hinter den Kerzen flackert das Verliebtsein wieder auf, erlebt seine Renaissance. Jakob ist genau der Richtige, ist lieb und treu, auch wenn er oft bis spät in die Nacht in dem kleinen Labor sitzt und Lichtteilchen durch Kristalle schickt, spaltet und verschränkt, um ihre Polarisationsrichtung zu teleportieren und die Ergebnisse auszuwerten.
Marie sitzt in eine Decke gekuschelt auf dem Sofa, in der Heizungsluft ein Duft nach Orangen und Vanille. Wie schön ist es doch, zu wissen, dass es jemanden gibt, der einen heute noch in den Arm nehmen wird. Für die brennende, alles verzehrende Liebe gibt es eine Zeit, wie für alles andere auch, aber diese Zeit hat ein Ablaufdatum. Man braucht sich nur Romeo und Julia als Überlebende vorzustellen, Tybalt frisch und munter als Trauzeuge. Fünf Jahre später ist das Lagerfeuer im Bauch dahin, schreien die Kinder und rasen durchs Wohnzimmer, legt der ewig mürrische Romeo die Beine hoch, starrt in die Zeitung und fragt, was es zu essen gibt. Das hat man von der großen Liebe. Wirklich groß bleibt sie nur, wenn sie sich nicht erfüllt. Man muss sich daran gewöhnen, dass die wahre Liebe nicht brennt und flackert. Auf Jakob kann sich Marie verlassen, er wird auch zu Weihnachten noch da sein, wird sich nicht nach der dritten Kerze verabschieden, wie damals Joe, der ihr eine Woche vor Weihnachten gestanden hat, sie betrogen zu haben. Trotzdem hat sie ihm zwei Wochen später verziehen, haben sie gemeinsam Silvester gefeiert, auf der Karlsbrücke in Prag, Hand in Hand, Lagerfeuer im Bauch.
Die Kekse im Backrohr verströmen ihren süßen Zimtgeruch. Nur Joe stört. Joe, der ihr immer wieder ins Ohr flüstert: Ist
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