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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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Hand, einen Joint in der anderen? Sie stellt sich vor, wie es wäre, nicht zur Arbeit zu gehen. Sich stattdessen zu dem Typ zu setzen und ein Bier zu trinken. Nein, lieber hätte sie jetzt einen Kaffee, also noch einmal zurückspulen, einen Kaffee holen, sich mit einem Pappbecher vor eine der Auslagenscheiben setzen und einfach sitzen bleiben. Vorbeieilende Beine, Stöckelschuhe, Kinderwägen. Irgendwann würde ihr langweilig werden. Was macht man einen ganzen Tag lang in einer U-Bahn-Passage? Kein Wunder, dass sie alle trinken und Drogen nehmen, denkt sie, ich würde das auch nicht aushalten, jeden Tag zehn Stunden oder mehr. Dabei sind das hier junge Leute, jünger als sie. Aus der Gesellschaft ausgestiegen. Zumindest hat es der Mann in der Dokumentation so ausgedrückt. In seinem linken Nasenflügel steckte ein Ring, daran eine Kette, quer über die Wange bis zum Ohr. Auf welchem Sender hat sie diese Dokumentation gesehen? Die Frau, die ein Kind erwartete. Sie sei jetzt clean. Furchtbar, denkt Sonja. Wie kann man am Karlsplatz ein Kind bekommen? Und was passiert mit so einem Kind? Nimmt man es der Mutter weg? Weiß man überhaupt etwas von dem Kind? Das Interview hat in einem fensterlosen Raum stattgefunden. Bunte Graffitis an den Wänden, darauf Sprüche in schwarzer Farbe, ein A in einem Kreis. Wo ist dieser Raum? Sonja schaut sich um, doch sie sieht nur Schaufenster, davor Ständer mit Handtaschen und Tüchern. Weiter hinten eine McDonald’s-Filiale, gegenüber der Schalter der Wiener Linien. Wo soll es da so einen Raum geben? Vielleicht hinter dem Männerklo? Oder hinter den Mülltonnen? Irgendwo muss es einen Müllraum geben, irgendwohin müssen die Betreiber der Imbissbuden ihre Abfälle bringen. Vielleicht befindet sich der Raum hinter den Mülltonnen, hinter einer kleinen versperrten Tür.
    Zwei Polizisten kommen ihr entgegen. Ob sie das Kind suchen? Sonja schüttelt den Kopf. Wie komme ich jetzt auf das Kind dieser Punkerin? Sie war doch eine Punkerin, oder? Zumindest hatte sie grüne Haare. Auf der einen Seite kurz, auf der anderen lang, mit eingeflochtenen Dreadlocks, die ihr über die Schulter hingen. Sie hatte ein hübsches Gesicht. Zart. Zerbrechlich. Ein Gesicht, wie Männer es mögen.
    Wieso denke ich die ganze Zeit über diese Dokumentation nach? Vielleicht, weil Gery dieses Poster über dem Bett hängen hat. Ein junger Mann mit Irokesenschnitt, daneben ein Mädchen mit Kapuze und Nasenpiercing.
Love ist Anarchy.
    Dieser Gery ist schon seltsam. Ganz anders als Jakob. Leidenschaftlicher. Verrückter. So einen hat Sonja noch nie kennengelernt. Wollte sie nie kennenlernen. Aber was macht das jetzt noch für einen Unterschied? Jakob hat sie verlassen, und die, die sie in den letzten Monaten kennengelernt hat, waren allesamt ein Reinfall.
    Sonja fährt mit der Rolltreppe hinauf. Fast neun. Na und? Kommt sie eben zu spät. Sie ist ohnehin ihr ganzes Leben lang pünktlich gewesen.

10  Zur selben Stunde, in der Hugo Steinwedel unbemerkt von den Pflegern der Sigmund-Freud-Klinik nach Campofelice fährt, weil der Name so schön ist, die Blumen dort bunter blühen und der Sand weicher ist, im selben Augenblick, in dem die siebzehnjährige Sofia ihn bei der Hand nimmt und mit ihm in die Wellen des Tyrrhenischen Meeres läuft, fährt Marie mit dem Wischmop unter das Bett.
    Den ganzen Tag hat sie die Wohnung der Großmutter geputzt, hat gesaugt und gescheuert, Möbel verrückt und Teppiche aufgerollt, bis alles wieder so ausgesehen hat wie früher. Sie hat das am Boden verstreute Gewand des Vaters, seine Pantoffeln, den schmutzigen Schlafrock, den vollen Aschenbecher und die leeren Zigarettenpackungen vom Boden aufgehoben, hat Wäsche gewaschen und sie in den großen Trockner im Waschsalon drei Gassen weiter gesteckt. Jetzt, am Ende des Nachmittages, stehen wieder Usambaraveilchen am Couchtisch, so wir früher bei der Großmutter. In der Küche ist alles an seinem angestammten Platz, die Käsereste aus dem Kühlschrank sind in einen Müllsack gestopft, und auch der Sack mit den italienischen Keksen liegt in der großen Mülltonne im Hinterhof. Am Ende des Tages ist nichts mehr übrig vom traurigen Vater, alles ist verräumt und verdrängt, nur ein leichter Putzmittelgeruch hängt noch in der Luft.
    Als Marie ein letztes Mal mit dem Wischmop unter das Bett fährt, stößt sie gegen etwas Hartes. Sie sieht unters Bett. Eine Schachtel? Mit einer Drehbewegung schiebt sie den Gegenstand unter dem Bett hervor. Es

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