Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
dringender gebraucht als das Gefühl von Zukunft, und sei es auch nur die Gewissheit, dass am nächsten Tag alles so sein würde wie an diesem. Bei Joe konnte man jedoch nie sicher sein. Marie traute ihm nicht einmal, wenn er aufs Klo ging. Jedes Mal malte sie sich aus, wie sie am Kaffeehaustisch auf ihn warten würde, zuerst Minuten, dann Stunden, bis sie würde einsehen müssen, dass er nicht mehr zurückkommen würde. Das kam nicht von ungefähr. Joe war nicht gerade einer, den man als zuverlässig bezeichnete. Befand er sich laut telefonischer Aussage auf dem Weg zu ihr, konnte es durchaus vorkommen, dass er erst Stunden später ankam. Stunden, in denen Marie am Sofa saß und wartete. Und immer wieder aufsprang, um zum Fenster zu laufen. Handy hatten sie damals beide keines, und als sie eines besaßen, waren sie längst kein Paar mehr und Marie hatte es aufgegeben, nach dem Warum zu fragen. Für Joe gab es keine Gründe, für Joe gab es nur Umstände. Umstände, die in Maries Augen gegen sie sprachen. Das war das eigentliche Missverständnis. Marie nahm Joe seine Liebe nicht ab, und Joe konnte nicht anders, als so zu sein, wie er eben war. Als er sah, wie sie litt, gab er sie frei, indem er ihr bestätigte, was sie längst ahnte, nämlich dass er sie nicht genug liebte. Es war das erste und einzige Mal, dass er sie belog. Und da der Mensch dazu neigt, das zu glauben, was ihm als logisch erscheint, warf Marie ihre wenigen Dinge, die sich in Joes Wohnung befanden, in einen Plastiksack, schnürte ihn zu und rief ein Taxi. Dann lief sie die Treppen hinunter, auf die Gasse hinaus, setzte sich auf die Rückbank und verschwand aus Joes Leben.
Marie und Joe. Vielleicht gibt es so etwas wie Bestimmung doch nicht. Während Marie allein zu Bett ging, legte sich Joe zu einer, die ihm nichts bedeutete, und verschoss seine Liebe, die direkt im Gesicht der Fremden landete. Am nächsten Tag weinte er in Gerys Armen wie ein kleines Kind.
12 Während sich die meisten auf dem Rathausplatz tummeln und viel zu süßen Beerenpunsch trinken, sich die behandschuhten Finger an warmen Tassen wärmen und auf die leuchtenden Plastikherzen in den kahlen Baumkronen über ihren Köpfen starren, sitzt Jakob in dem kleinen Labor unter der Donau und schickt Photonen von der Alice zu Bob. Immer mehr Zeit verbringt er neuerdings dort, sehr zur Freude seines Vaters. Das, worauf Norbert Stierschneider so lange gewartet hat, ist endlich eingetreten, sein Sohn hat Feuer gefangen.
Dass Jakob ausgerechnet in den naturwissenschaftlichen Fächern eine Begabung erkennen ließ, war Pech. Man könnte meinen: Der Vater Professor für Quantenphysik, da fällt der Apfel nicht weit vom Stamm, und immerhin ist es ja nicht von Nachteil, wenn man in jemandes Fußstapfen treten kann. Aber genau das war es, was Jakob nie wollte. Die Fußstapfen, die Norbert Stierschneider für seinen Sohn in den Schnee gedrückt hatte, ließen keinen anderen Schritt zu als den, den der Vater vorgegeben hatte. Wäre Jakob ein Sprachengenie gewesen, hätte er beispielsweise Anglistik, Romanistik oder gar Japanologoie studiert, hätte er seinen Weg selbst bestimmen können. So aber war alles im Vorfeld abgesprochen, nicht nur mit dem Sohn, auch mit den Kollegen des Vaters, die Jakob dereinst unterrichten sollten. Norbert Stierschneider erwartete von Jakob seit jeher, was er selbst nie erreicht hatte: Ruhm, der über die Grenzen Österreichs hinausreicht. Denn dass Jakob eine außergewöhnliche Begabung hat, war schon offensichtlich, als er noch ein kleiner Junge mit fragilem Knochenbau war. Jakob kletterte nicht nur ständig auf Bäume, um anschließend wieder von ihnen herunterzufallen und mit eingegipsten Gliedmaßen herumzurennen, Jakob trug auch immer dreierlei Dinge bei sich: einen Kompass, einen Magnet sowie eine Lupe, die er an alles hielt, was ihm Mutter Natur in die kleinen Finger spielte.
Als Jakob sechs Jahre alt war, fand ihn die Mutter weinend am Boden seines Kinderzimmers vor einem Aufbau sitzend, der aus zwei Kartonflächen und einer Schreibtischlampe bestand. Auf den einen Karton hatte Jakob ein weißes Blatt Papier geklebt, in den anderen hatte er mit einer Nagelschere zwei Schlitze geschnitten. »Es funzoniert nicht«, sagte er zornig, als die Mutter eintrat. Traude Stierschneider, die keine Ahnung vom Doppelspaltexperiment hatte, aber vom verzweifelten Versuch ihres Sohnes sowie dem Wort »funzoniert« gerührt war, setzte sich zu Jakob auf den Boden und ließ
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