Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
besuchen, und am Sonntag den ganzen Tag lang putzen. Wie die Staubtuchfrau, denkt sie. Ich könnte auch alles aus dem Fenster beuteln. Oder einfach aus dem Fenster werfen.
9 Die Sonne spritzt ihre Strahlen auf den Asphalt, die Gehsteige bekommen Leopardenflecken, und die letzten Blätter glitzern golden. Sonjas Stiefel stöckeln die Erzbischofgasse entlang, bleiben in einer Rille hängen, da-tock. Fast wäre sie umgekippt. Sie lacht. Dabei hält sie sich den Bauch wie eine Zeichentrickfigur. Schulkinder rasen an ihr vorüber, zwei Mädchen mit rosa Schultaschen, ein Bub mit grauem Rucksack. Die Mädchen drehen sich um, kichern und rennen weiter. Wie ich aussehen muss, denkt Sonja.
Heute knistert ihr Pferdeschwanz nicht, heute riecht ihr Haar wie das einer Wirtshausgeherin, nach kaltem Rauch und Schweiß. Fehlt nur noch der Alkoholgeruch. Sonja hält sich die Hand vor den Mund, atmet aus, zieht die Luft tief in die Lungen, bläht dabei die Nasenflügel. Nein, der Alkoholgeruch ist verflogen, Gerys scharfe Zahnpasta überdeckt alles. Kann man seinen eigenen Mundgeruch überhaupt riechen, oder ist man gegen den immun, weil man sich sonst täglich selbst vergiften würde?
Was für eine dumme Idee, gleich zwei Nächte zu bleiben! Wo doch von Anfang an klar gewesen ist, dass sie einander nichts zu sagen haben, dass sie zwei grundverschiedene Menschen sind. Gery erzählt ihr von Filmen und Büchern, von denen sie keine Ahnung hat. Seine Buchregale sind voll mit Werken, von deren Existenz sie seit der Schulzeit nicht mehr gehört hat, verstaubte Bücher, bei denen sie niesen muss und gar nicht ins Regal greifen möchte.
Sie sahen einen Film, in dem sich die Schauspieler nach der Reihe zu Tode fraßen, dazu aßen sie selbst, lachten und tranken, und noch bevor der Film zu Ende war, verirrte sich Sonjas Hand in Gerys Hosenschlitz. Den ganzen darauf folgenden Sonntag verbrachten sie im Bett, hatten Sex, schliefen und sahen weitere Videos an, und als es draußen dunkel wurde, bestellten sie Pizza und Gery sagte: »Bleib doch einfach hier.« Also blieb sie, und als sie an diesem Morgen um kurz nach halb sieben versuchte, sich aus seinen Armen zu schälen, hielt er sie fest und presste sie gegen seinen nackten Körper. Die Augen noch immer geschlossen, biss er sie in den Nacken. Wie kleine Tiger rollten sie ineinander verkeilt über die Matratze. »Lass mich, ich muss mich fertig machen«, lachte sie, doch er fesselte sie mit seinen Beinen, rutschte in sie hinein, öffnete kurz die Augen, blinzelte gegen das Licht und strich ihr eine verklebte Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann schloss er die Augen wieder, und als sie endlich unter der Dusche stand, war es eine Dreiviertelstunde später.
Sonjas Absätze klappern die Stufen zur U4 hinunter. Der Zug steht schon in der Station, ein letztes Tüüüt, mit einem schnellen Schritt hüpft sie in den Waggon, bevor sich die Türen schließen. Sie setzt sich in die Bankreihe und sieht dem Schaukeln der Haltegriffe zu. In Unter St. Veit ist von der morgendlichen Rushhour noch nichts zu spüren, erst in Hietzing füllt sich der Waggon. Sonja beobachtet die Leute, die sich mit müden Gesichtern an die Haltegriffe klammern, um nicht umzufallen. Alle sind sie für den Arbeitstag herausgeputzt, tragen Röcke oder Krawatten, sehen frisch aus, sauber und gebügelt, nur ihre Gesichter liegen in Falten. Sonja sieht auf die Uhr. Sie ist spät dran, so spät kommt sie normalerweise nie ins Büro. Bestimmt werden sich die anderen nach ihr umdrehen, die Köpfe zusammenstecken. »Sonja verspätet sich? Das gibt’s doch nicht!« Und dann werden sie feststellen, dass sie nach Zigaretten riecht, nach durchzechter Nacht und vielleicht auch nach Sex, vielleicht ist ja etwas davon in ihren Haaren kleben geblieben, die sie nur eilig zum Zopf zusammengebunden hat, damit man nicht sieht, dass sie nicht frisch gewaschen sind.
Die Frau am Sitz gegenüber sieht Sonja an und senkt den Blick rasch wieder zu Boden. Vielleicht hält sie mich ja für eine Sozialhilfeempfängerin, denkt Sonja. Aber Sozialhilfeempfängerinnen tragen keine teuren Röcke und auch keine violetten Strumpfhosen. Sie sieht abermals auf die Uhr. Schon viertel vor neun.
Am Karlsplatz steigt sie aus und klappert durch die Passage. Ein Typ mit Bierdose grinst sie an. Sonja geht schneller. Was will der von mir, denkt sie, sehe ich jetzt schon aus wie eine vom Karlsplatz, wo sie alle mit diesem Drogenblick herumhängen, eine Bierflasche in der
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