Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
Vom Netzwerk:
Engel. Das hat Joe nie kapiert.«
    »Da kommt Palicini«, sagt Gery, hebt die Hand und winkt dem Palatschinkenkoch zu.
    Und dann geht auf einmal alles wahnsinnig schnell. In den kleinen Holzwaggon hinein und ab die Post. Vier Minuten pro Runde, an der Kirche von Heiligenblut vorbei, um den Großglockner herum, hinein in den Tunnel und wieder hinaus. Von den Zwergen anspritzen lassen, am Start Palicini winken und wieder zurück nach Heiligenblut. Marie lacht. »Joe, du verdammter Idiot!«, schreit sie gegen das Quietschen der Räder an. Hinter ihnen steht der Bremser, und Marie fragt sich, ob er wohl weiß, warum sie hier sind. Was hat Joes Testament mit der kleinen Hochschaubahn zu tun, mit der jetzt nur noch die Kinder fahren? War es sein letzter Wille, dass sie sich noch einmal für ihn in einen der Waggons setzt, die Finger um die Stange legt und fest zudrückt, weil sie sogar hier ein mulmiges Gefühl bekommt, wenn es bergab geht? Schaut er jetzt auf sie beide herab, wie sie hier sitzen und sich von den kleinen Plastikmännern mit den roten Zipfelmützen nass spritzen lassen?
    Keine Zeit zum Nachdenken. Kaum sind sie ausgestiegen, rennt Palicini auch schon weiter, und sie hinterdrein, vorbei am Praterturm und am Ponykarussell, vor dem Marie damals gestanden ist und Visionen von brennendem Holz und davongaloppierenden Pferden gehabt hat. Wenn er wenigstens eine Ponybefreiung in seinem Testament stehen hätte, denkt sie. Aber nicht einmal Joe war dafür verrückt genug.
    »Komm«, sagt Gery und nimmt sie an der Hand, zieht sie weiter, weg von den Ponys, Palicini hinterher, der bereits vor dem Spiegelkabinett steht und auf die Uhr sieht, als müssten sie einen Rekord aufstellen, eine Art Praterparcours. Schon schubst der Palatschinkenkoch sie ins Spiegelzimmer, auch wenn es nicht seine Hände sind, die sie antreiben, vielmehr ist es sein Blick, seine verschmitzt grinsenden Augen: Los geht’s, hinein mit euch. Als wäre er ihr Unterhalter, ihr Kindermädchen, engagiert von Joe höchstpersönlich, um mit ihnen einen Tag im Prater zu verbringen, so wie ihn Joe damals mit ihr verbracht hat, und scheinbar auch oft genug mit Gery, der jetzt hinter den Glaswänden verschwindet und Marie allein vor den Zerrspiegeln stehen lässt. Sie kommt sich dumm vor, so allein vor dem Spiegel, dick und gestaucht, mit eingedrücktem Schädel. Eine Mutter mit Kind betritt den Raum, stellt sich neben Marie. »Schau mal, Kevin!«, ruft sie den Sohn, und Marie denkt: Warum heißen die heute alle Kevin, wieso ist das so, wieso müssen die Mütter ihre Kinder immer gleich nennen? Da sieht sie Gery hinter dem Buben im Spiegel auftauchen, und schon schneidet er Grimassen und legt sich die Finger wie Hörner auf den Kopf. Er ist wie Joe, denkt sie, wie ein kleines Kind, kindischer als Kevin, der ihm mit ausdruckslosem Gesicht zusieht und keine Miene verzieht. Gery hebt die Arme hoch, kratzt sich unter den Achseln. »Uh-uh!«, kreischt er, immer lauter, wie ein wild gewordener Schimpanse, und Kevin sieht ihn über den Spiegel an, fast erwartet Marie, dass er den Kopf schüttelt und sich an die Stirn tippt, aber dann beginnt er doch zu lachen. Und wieder rennt Gery los, zum Labyrinth, schlüpft zwischen den Glasscheiben durch, rennt ihr davon, und als sie ihm nachrennen will, bemerkt sie in letzter Sekunde das Glas, stützt sich mit den Händen daran ab. Langsam tastet sie sich vor, biegt in Gerys Richtung ab, aber immer ist eine Glasplatte zwischen ihnen, und als er schon draußen bei Palicini steht, findet sie noch immer nicht hinaus. Also geht sie nochmals ein paar Gänge zurück und beginnt von neuem zu suchen. Draußen sieht Palicini auf die Uhr, sie kann ihn durch die Glasscheiben sehen. Als würde er sagen: Mach schon, wir haben nicht viel Zeit. Also konzentriert sie sich. Wie heißt es? Immer rechts halten. Sie wird von Kevin und seiner Mutter überholt und beschließt, ihnen zu folgen. Dabei bemerkt sie nicht, wie Gery auf der anderen Seite ins Spiegelkabinett schlüpft und sich von hinten nähert. »Puh!«
    Erschrocken dreht sich Marie um.
    »Idiot. Ich hätte schon hinausgefunden«, sagt sie, als er ihr vorangeht und sie mit sich zieht, doch als sie Kevin und die Mutter in die andere Richtung gehen sieht, fragt sie sich, wie lange sie wohl noch gebraucht hätte.
    »Joe und ich waren bestimmt hundert Mal hier«, sagt Gery. Er grinst sie an. »Und? Fängt es an, dir langsam Spaß zu machen?«
    Sie gehen auf Palicini zu, der sofort die

Weitere Kostenlose Bücher