Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Sitzreihe zurück und fragt sich, wer wohl wen anrufen wird.
8 Sie findet die Fotografie in einem der Alben. Ganz hinten steckt sie, zwischen den Bildern der Eltern. Hedi nimmt das Foto heraus und stellt das Album zurück ins Regal. Dann geht sie in die Küche und stellt Teewasser auf. In den Ecken sammeln sich Staub und Haare, die die Tochter nicht mehr wegwischen wird. Sie wird es nicht mehr zulassen, dass sich Traude ihretwegen kränkt.
Hedi bückt sich, befeuchtet die Zeigefingerkuppe, drückt sie auf die Wollmaus und hält sie unter das Wasser.
Sie hat nichts essen können. Hat gewusst: Wenn ich den Teller leer esse, bekomme ich wieder Magenkrämpfe und Durchfall. Seit Wochen schon kann sie nichts essen. Nur ein wenig Zwieback hie und da. Das Essen, das man ihr täglich liefert, wirft sie in den Mülleimer.
Hedi leert das heiße Wasser auf den Teebeutel. Balanciert die Tasse ins Wohnzimmer und stellt sie auf den Tisch. Setzt sich dann in den Schaukelstuhl.
Wie Traude geweint hat. Natürlich hat Hedi es gemerkt, wie die Tochter mit roten Augen ins Wohnzimmer zurückgekommen ist. Es wird Zeit, dass ich gehe, denkt sie. Dann hat Traude endlich wieder ihr eigenes Leben. Dann muss sie sich nicht mehr um mich kümmern
Hedi nimmt einen Schluck vom Tee. Verbrennt sich die Zunge. Sie nimmt die Fotografie vom Tisch und fährt mit der Hand über den geraden Nasenrücken. Was für ein schönes Gesicht er hatte. Und schöne Hände. Richtige Künstlerhände, mit langen kräftigen Fingern. Sie spürt sie noch auf der Haut. Mehr als sechzig Jahre danach noch immer derselbe Schauder. Was wäre gewesen, wenn ich ihm geschrieben hätte?
Ilja, wir bekommen ein Kind!
Ob er zurückgekommen wäre? Oder hätte er sie nach Leningrad geholt? Ihr die Überfahrt bezahlt? Wäre sie glücklicher gewesen, dort, in dem fremden Land, wo die Winter so kalt sind und sie die Sprache nicht verstanden hätte?
Hedi bläst in die Tasse. Nimmt vorsichtig noch einen Schluck.
Ich hab dir so viel zu erzählen.
Ob sie ihn wiedersehen wird, dort oben? Wird sie ihm von der Kälte erzählen können, von dem zerschlissenen Mantel, den ihr Inge aus Heeresdecken genäht hat, und von den drei Sesseln, die sie in einer besonders kalten Nacht verheizt haben? Wie sie gelacht und gesagt hat: »Hauptsache, das Kind hat es warm da drinnen!«
Sie hätte den Jungen nicht weggeben dürfen. Was, wenn sie Ilja nach ihrem Tod tatsächlich gegenüberstehen wird?
Hedi sieht die schlanke Frau mit der blonden Hochsteckfrisur vor sich. Wie sie die Arme nach ihrem kleinen Wassily ausstreckt und Hedi kurz in die Augen sieht, scheu, dankbar. Kurz nickt und sich dann wegwendet, zum Ausgang spaziert. Als wäre nichts geschehen, als hätte sie den Park schon mit dem Kind auf dem Arm betreten.
Agathe Stein war eine hübsche Frau. Nicht so ein dürres Ding wie Hedi. Als sie mit dem Kleinen davonging, hat er keinen Ton von sich gegeben. Als hätte er die Übergabe nicht einmal wahrgenommen.
Was wohl aus den Steins geworden ist? Agathe müsste jetzt schon über neunzig sein. Bestimmt ist sie schon tot, denkt Hedi. Und Wassily? Was, wenn er auch schon tot ist?
Ob sie ihm jemals von seiner Mutter erzählt haben? Diesen Gedanken hat sie nie abstellen können. Nicht, als Traude vor ihr auf dem Boden gesessen ist und mit ihren Puppen gespielt hat, und auch nicht, als Anna zur Welt gekommen ist. Und jetzt, seitdem das Alter sich eingenistet hat, kann sie es noch weniger.
Draußen legt sich die erste warme Mainacht über die Stadt und geht auf Brautschau. Irgendwoher hört man das Schreien einer Katze. Hedi steht auf und geht in die Abstellkammer. Steigt auf einen Sessel und sucht im obersten Regal nach der Keksdose. Sie muss den Besenstiel zu Hilfe nehmen. Als sie sich streckt, sticht es im Magen. Sie hält sich am Regal fest und atmet flach. Wenn ich jetzt falle, denkt sie. Das Stechen im Magen wird schlimmer. Hedi steigt vom Sessel. Ihr ist schwindlig. Sie geht auf den Flur und tastet sich der Wand entlang aufs Klo.
Wieder ist ihr Durchfall blutig. Die Magenkrämpfe kommen und gehen. Hedi stöhnt. Sie spült hinunter und geht in den Abstellraum. Klettert wieder auf den Stuhl. Diesmal erwischt sie die Keksdose. Vorsichtig steigt sie hinunter und setzt sich mit der Dose auf den Schaukelstuhl. Trinkt noch ein Glas Cognac. Das Stechen im Magen will nicht aufhören. Hedi öffnet die Keksdose und holt die Stoffwindel heraus. Hebt sie an ihr Gesicht, doch sie riecht nur nach altem
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