Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Riesen, der Fotografie des Löwenmenschen und der Frau, deren Oberkörper auf einer Stange befestigt war.
Hereinspaziert, meine Herrrrschaften, das können Sie bei uns grrrratis sehen.
Marie schlüpft in den dunklen Raum und grüßt den Watschenmann. Würde ihn gerne berühren, ihm über die alte Lederhaut streichen und wohltun, dem armen geprügelten Mann.
Im Raum riecht es nach Staub und Vergangenheit.
In zwanzig Minuten wird sie sich auf den Weg machen. Wird die Straße des Ersten Mai entlanggehen, vorbei an den Zombies, Achterbahnen und Würstelbuden. Sie merkt, wie sich ihr Magen bei dem Gedanken daran, was dann passieren wird, unwillkürlich zusammenzieht.
Noch könnte sie einfach nach Hause gehen. Umdrehen, zum Praterstern, in die U-Bahn steigen, eine Station fahren und beim Augarten wieder aussteigen. Sie ist sowieso müde, hat die ganze Nacht nicht schlafen können.
Sie muss an gestern denken. Da war sie noch in Graz. Wie sie ins Pflegeheim gefahren ist und die Tür zum Zimmer des Vaters geöffnet hat. Wie sie ihm den Stein auf die Handfläche gelegt hat, Sofias Stein, den sie beim Zusammenräumen wiedergefunden hat. Ein kleiner, runder, glatter Stein, der, wenn er nass wird, schwarz-golden leuchtet. Der Stein, den sie in Sizilien gefunden haben, der Vater, Mutter und sie, vor einem drei viertel Leben.
Als sie zum Pflegeheim gefahren ist, hat sie sich vorgestellt, wie der Vater den Stein festhalten und mit seinem Daumen darüber streichen wird. Wie über sein Gesicht ein Lächeln huschen wird, wie er kurz mit den Augen blinzeln wird. Aber als sie seine Finger um den Stein gelegt hat – einen nach dem anderen –, hat sich seine Faust sofort wieder geöffnet. Vaters Handrücken auf dem Laken, der Stein auf den Linien seiner Handfläche. Die Finger wie eine geöffnete Muschel, die die Perle nicht mehr schützen kann. Der Pfleger hat ihr bei ihren Bemühungen zugesehen. Hat sie mitleidig angeschaut, als sie das Zimmer nach nur zehn Minuten wieder verlassen hat.
Bestimmt haben sie ihm den Stein wieder weggenommen, denkt Marie. Damit er sich nicht darauflegt. Aber wie sollte er sich schon darauflegen, er kann sich nicht einmal aus eigener Kraft umdrehen.
Sie bleibt am Schautisch mit dem Rotundenmodell stehen. Stellt sich vor, wie die Wiener und Wienerinnen früher dort spazieren gegangen sind, mit Hüten und Spazierstöcken, langen Röcken und Rüschensonnenschirmen. Da merkt sie, wie jemand hinter ihr stehen bleibt, ganz nahe, und ihr den Atem in den Nacken bläst. Sie dreht sich um. Lächelt.
»Joe hat das Museum geliebt«, sagt sie, als müsse sie erklären, warum sie hier ist. »Das Museum und die alten Bücher und Filme über den Prater. Kobelkoff, die Prater-Mizzi und den Watschenmann.«
»Ich weiß«, sagt Gery.
Gemeinsam gehen sie weiter, zum Bild des finnischen Riesenmenschen. »Väinö Myllyrinne«, sagt Gery. Er muss den Namen nicht von der Schautafel ablesen.
Sie gehen an dem alten Hutschpferd und den Ringelspielfiguren vorbei.
»Wie spät ist es?«, fragt Marie.
»In fünf Minuten sollten wir los.«
Sie schlüpfen durch den dichten Vorhang in die Nachmittagssonne. Müssen die Augen zusammenkneifen, so sehr blendet sie die Julisonne nach dem Aufenthalt in den dunklen Räumen. Schweigend gehen sie zum Treffpunkt. Marie sieht den vorübereilenden Besuchern nach, den Kindern mit Zuckerwatte und den Jugendlichen mit Langos, Kebab und McDonald’s-Schachteln.
»Glaubst du, Palicini kommt wirklich?«, fragt sie, als sie vor der Zwergerlbahn stehen bleiben und auf den künstlichen Großglockner schauen, dessen Gipfel über den Zaun ragt. Sie scharrt mit der Schuhspitze im Kies.
»Lassen wir uns doch einfach überraschen«, sagt Gery.
Plötzlich hat sie das Gefühl, dass er sich lustig macht über sie.
Gleich wird Joe um die Ecke biegen, denkt sie, und dann werden wir sich die beiden die Bäuche halten vor lauter Lachen, und ich werde zuerst böse sein und dann selbst zu lachen beginnen, und dann fahren wir gemeinsam mit der alten Hochschaubahn und danach mit der Geisterbahn.
Sie beginnt, in ihrer Handtasche zu kramen, zieht das Handy hervor und sieht auf die Zeitanzeige.
»Drei Minuten nach«, sagt sie.
Sie holt die Zigarettenschachtel aus der Handtasche und zippt den Reißverschluss zu.
»Joe hat dich geliebt«, sagt Gery in ihr Kramen hinein. »Er hat dich immer seinen Engel genannt.«
Marie bläst den Rauch aus den Nasenflügeln. »Engel haben eine himmlische Geduld. Ich bin kein
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