Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)
Staub. Auf dem Tischchen neben dem Schaukelstuhl liegt die Fotografie. Hedi legt sie auf die Stoffwindel und presst beides fest in den Schoß, dann schließt sie die Augen und versucht, die Magenschmerzen auszuatmen.
Die Schachtel, die Gery aus Oberkreuzstetten mitgebracht hat, steht am Boden. Hedi setzt sich an den Schreibtisch, auf dem auch der kleine Fernseher steht. Aus der einen Schublade holt sie ein Kuvert, aus der anderen die Geldbörse, mit der sie am Vormittag auf der Bank war. Sie steckt das Geld ins Kuvert, das sie beschriftet und in die Schachtel legt. Dann setzt sie sich wieder in den Schaukelstuhl. Nimmt abermals die Windel und das Foto. Der laue Frühlingswind lässt die Vorhänge tanzen und begibt sich auf Streifzug. Vorbei an Porzellanfiguren und Kristallgläsern. Streichelt Hedis bestrumpfte Beine, dreht Pirouetten unter dem Schaukelstuhl und umrundet die Kartonschachtel. Dann verlässt er das Zimmer auf dem gleichen Weg, den er gekommen ist. Die Cognacflasche steht offen auf dem Tisch. Der Tee in der Kanne ist kalt. Der Schaukelstuhl steht still.
Teil 5
Fliehkraft
1 Sie ist viel zu früh dran, hat noch fast vierzig Minuten Zeit. Der Prater ist schon wieder bunter geworden mit seinem hässlichen Vorplatz in Pastell. Am Riesenrad vorbei.
Wien, Wien, nur du allein, sollst stets die Stadt meiner Träume sein.
Albträume müssen das sein. Marie nimmt sich eine der bunten Broschüren und fragt sich, warum sie gekommen ist. Kann kein Vergnügen darin erkennen, sich dreiundzwanzig Meter hinaufkatapultieren zu lassen, Füße voran, nur um gleich darauf in rasendem Tempo wieder hinunterzufliegen.
Volare, oh-oh.
Bungeejumping und Hubschrauberloopings, Raketensimulationen. Ständig müssen die Praterbesucher den Adrenalinspiegel künstlich hoch halten, schon beim Eingang hört man ihr Kreischen und Quietschen.
Marie geht nach links, am Souvenirladen vorbei.
Naschereien, Kugeln und Musi
steht über einem der Eingänge. Der Vorplatz mit dem neuen Eisvogel wirkt wie eine altmodische Theaterkulisse,
Küss die Hand, gnä Frau.
Ein hoffnungsloser Versuch, mit Pappkulissen die alte Zeit wiederauferstehen zu lassen. Wenn der Wiener nur nicht so ein Wurschtel wär.
Marie muss an ihr erstes Mal im Prater denken, das war, als die Mutter noch gelebt hat. Fliegende Sessel, Geisterschloss, Spiegelkabinett, Zwergerlbahn. Nur die Grottenbahn war in Graz schöner, da konnte selbst der Prater nicht mithalten. Jetzt fliegen die Sessel schon am Vorplatz. Vorbeirauschende Ballerinas und Sportschuhe. Das verschämte Lachen der Prater-Mizzi aus dem alten Schwarzweißfilm, den sie sich mit Joe angesehen hat, hat anders geklungen als das Gekreische, das von den Hochschaubahnen herüberweht.
Sie spaziert weiter in den Prater hinein. Verwaist steht der Bogenschießstand da, wie ein Überbleibsel aus einer verlorenen Zeit. Hier hat ihr Joe den himmelblauen Elefanten geschossen. Danach haben sie ihre Nasen in rosafarbene Zuckerwatte gesteckt. Das war am Tag, nachdem sie sich auf der Brücke wiedergetroffen hatten.
Den Elefanten hat sie vor anderthalb Jahren in die Mülltonne geworfen.
Sie öffnet den Plan. Findet die Alt Wiener Grottenbahn und das Spiegellabyrinth. Wo ist nur die alte Hochschaubahn mit dem künstlichen Gebirge mit den zwei wasserspuckenden Zwergen, die sie als Kind so gerne gehabt hat?
Donau-Jump
, liest Marie. Sie bildet sich ein, dass die Boote, die den kleinen Wasserfall hinuntersausen, früher anders geheißen haben.
Dreimal sind sie den Wasserfall hinuntergefahren, der Vater, die Mutter und sie. Am Schluss waren Marie und die Mutter ganz nass. Der Vater hat gelacht, die Pocketkamera aus der Innentasche seiner Jacke genommen, die Plastiktasche, in die er sie immer gewickelt hatte, entfernt und seine klatschnassen, lachenden Mädchen, wie er sie immer nannte, fotografiert. Und auch Marie hat fotografieren dürfen. Den sprechenden Gorilla, die Ponys und die Liliputbahn. Das schlafende Schneewittchen und die wasserspuckenden Zwerge.
Der Vater und Joe geben sich in ihren Erinnerungen die Hand, klatschen sich ab wie beim Tanz.
Sie sucht auf dem Plan nach der alten Hochschaubahn. Sie muss die Straße des Ersten Mai hinuntergehen, Richtung Wurstelplatz. So weit ist das nicht, da hat sie noch Zeit. Also spaziert sie am Planetarium vorbei, zum Pratermuseum. Das hat ihr am besten gefallen damals. In Joes Armen von Schaufenster zu Schaufenster, vorbei am kollektiven Wiener Bewusstsein, dem schwarzen Schuh des
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