Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitten in Amerika

Mitten in Amerika

Titel: Mitten in Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
Vom Netzwerk:
hast echt keine Idee?«
    »Nee. Du vielleicht? Ich meine, nachdem du die Eisstadt gebaut hast.«
    »Klar. Ich will reich sein und über die Welt herrschen. Ich will ein Computerfreak werden. Und die beknackte Eisstadt will ich längst nicht mehr bauen. Das war Kinderkram. Warum willst du wissen, wie ich die Schule verlassen habe? Hast du das auch vor?«
    »Nein. Das würde mein Onkel nicht erlauben.«
    »Was geht ihn das an? Und deine Eltern?«
    »Die sind verschwunden, als ich sieben war.«
    »Ist ja die Härte! Was meinst du mit ›verschwunden‹? Mitten in der Nacht abgehauen? Von Marsmenschen entführt? Bei einer Bombenexplosion draufgegangen? Von Gangstern oder Giftschlangen getötet? Mann, ich bin beeindruckt. Ich wollte, meine Eltern würden auch verschwinden. Meine Mutter – weißt du, was sie macht?«
    »Was denn?«
    »Sie kocht das Zeug mitsamt Etikett. Diese idiotischen Aufkleber auf den Tomaten, wo ›Tomate‹ draufsteht oder ›Avocado‹ bei den Avocados, die vergißt sie abzumachen, und deshalb haben wir dann die Etiketten im Salat. Oder diese Metallklemmen, die am Hühnerflügel stecken, die kocht sie mit, und das Blei und das ganze Gift aus dem Metall ist im Essen. Ich bin sicher halb vergiftet. Mein Vater leidet am meisten darunter. Er ist ganz krumm vom vielen Husten. Vergiftet durch Hühneretiketten.«
    Der Bus füllte sich, und Bob stand enger neben Orlando. Er roch ungewaschenes Haar und Spearmint-Kaugummi.
    »Meine Eltern sind nach Alaska gegangen, um ein Blockhaus für uns zu bauen, und ich sollte bei meinem Onkel bleiben, bis sie wiederkommen. Nur daß sie nie gekommen sind. Haben sich nie gemeldet, nie geschrieben. Mein Onkel hat die Polizei in Alaska angerufen, und die Polizei hat eine Vermißtenanzeige aufgegeben, aber gefunden wurden sie nie. Mein Onkel Xylo ist nach Alaska gefahren, um nach ihnen zu suchen. Irgendwie sind sie einfach verschwunden. Er konnte nicht mal rausfinden, in welchen Teil von Alaska sie gegangen waren. So kam es, daß ich für immer bei meinem Onkel geblieben bin. Er hat einen Ramschladen an der Colfax, und wir wohnen im Hinterzimmer und oben. Erst dachte mein Onkel, ihnen wäre was passiert. Aber später hat er das nicht mehr gedacht. Ich glaube, er hat gemerkt, daß sie mich loswerden wollten.«
    »Mann, das klingt ja irre! Und wenn du achtzehn bist, willst du nach Alaska und nach deinen Eltern suchen?«
    »Ich hatte es mir überlegt.« Diesen tiefen Wunschtraum, den er einige Monate nach ihrem Verschwinden entwickelte, hatte er seinem Onkel nie verraten: Er stellte sich vor, nach Fairbanks zu fliegen, im Telefonbuch nachzusehen und Adam und Viola Dollar mit Adresse und Telefonnummer zu finden. Später, als er herausgefunden hatte, daß Fairbanks auch nur eine ganz gewöhnliche Stadt war, hatte er die Handlung umgestaltet: Jetzt paddelte er (in einen bärtigen und muskulösen Erwachsenen verwandelt) in einem roten Kanu einen reißenden Strom in Alaska flußaufwärts und wanderte dann in Wildnis und Winteranfang hinein. Als er gerade kurz davor war, in einem schrecklichen Blizzard zu erfrieren, gelangte er zu einem Blockhaus in der Wildnis. In dem Blockhaus war ein altes Paar, schwach und entkräftet. Ihr Feuer war ausgegangen, sie kauerten sich unter zerlumpten Decken aneinander. Er fand die Axt und den Holzschuppen und hackte viele Armvoll Holz, machte Feuer, kochte Hot dogs und Kartoffelpüreeund fütterte das alte Paar, das vor Dankbarkeit schluchzte, und danach spülte er das Geschirr. Es gab einen Hund – einen Husky –, den er ebenfalls fütterte. Später gestaltete er den Husky zu einem ganzen Rudel halbverhungerter Schlittenhunde aus, die er alle fütterte und die ihm alle die Hände leckten. Das alte Paar pries ihn in den höchsten Tönen, und als die beiden wieder bei Kräften waren, baten sie ihn, bei ihnen zu bleiben. Der alte Mann sagte: »Wir hatten einen kleinen Sohn, der jetzt in Ihrem Alter wäre, aber wir konnten nie nach Denver zurück, um ihn zu holen.« Und er stellte sich vor, wie er sie behutsam ausfragte und erfuhr, daß es auf dem Nachbarclaim einen Desperado gab – Rick Moomaw, einen Burschen mit buschigem Haar und einem Gesicht wie eine Wärmflasche mit Backenbart –, der ständig darauf lauerte, daß sie weggingen, und sei es nur für ein Wochenende, um ihnen ihren gesamten Besitz zu stehlen, sogar das Haus, sogar die Grundstücksurkunde. Schließlich sagte Bob ihnen, wer er war, ihr verloren geglaubter Sohn, und sie fielen ihm

Weitere Kostenlose Bücher