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Mitten in Amerika

Mitten in Amerika

Titel: Mitten in Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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Ein Zelt schien verlockender zu sein. Und draußen toste ununterbrochen der Wind.
    Abends las er in Leutnant Aberts Expedition . Als Frontispiz gab es ein Bild von James William Abert, doch auf diesem Bild war er offenbar mittleren Alters. Es war schwer zu erraten, wie er mit fünfundzwanzig ausgesehen haben mochte: dünn, eine längliche gerade Nase, glattes braunes Haar. Vielleicht ließ er sich schon damals Schurrbart und Bart des Frontispiz- Porträts wachsen, wurde sein Haar schon spärlicher. Bob stellte sich vor, daß seine Freunde ihn »Jim« nannten, doch für ihn war er Leutnant Abert.
    Der Bericht begann mit einer Beschreibung von Bent’s Fort. Bob hatte auf einer Klassenfahrt Bent’s Fort besucht. Er wußte, daß das Fort eine Rekonstruktion war und daß die Fährtenleser, Schmiede und Bergbewohner, die man dort antraf, nur Darsteller waren, und dennoch hatte er den erstaunlich lebhaften Eindruck, daß er sich an der Grenze nach Mexiko befand, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vom Arkansas River bezeichnet wurde, in der Welt der Händler und Trapper und der Cheyenne-Indianer, der Mexikaner und Texaner, der Bisonfelle und der französischen Weltreisenden. Wenn er jetzt Leutnant Aberts Aquarelle betrachtete, die dieser vom anderen Ufer des Arkansas aus angefertigt hatte – eine übergroße Flagge, die am Fort wehte, und im Vordergrund ein spitzkegeliges Zelt, vielleicht ein Tipi, neben dem zwei Weiße standen,einer in einem gestreiften Hemd, der andere mit gekreuzten Armen, in Wildlederhosen und mit einem Gewehr über der linken Schulter –, hatte er das Gefühl, wieder dort zu sein. Das Fort sah genauso aus wie bei dem Schulausflug. Während dieses Besuchs hatte Bob voller Gefallen die kreischenden Pfauen betrachtet, die an der Brüstung des Forts entlangschritten und im Hof herumwanderten. Jetzt las er, daß es in den Tagen Leutnant Aberts zahlreiche Käfige im Fort gegeben hatte, in denen die Vögel aus der Gegend gehalten wurden – Elstern, Spottdrosseln, Weißköpfige Seeadler. Die Brüstung der Außenmauer war mit stacheligen Kakteen bepflanzt, die im Sommer 1845, als Abert sie sah, in wächsernem Rot und Cremeweiß blühten.
    Mit dem Leutnant erfreute er sich an den Gruppen von Cheyennes, die zum Fort kamen und Skalptänze tanzten und Abert Modell standen, damit er sie porträtieren konnte. Er genoß die detailverliebte Beschreibung, die der Leutnant ihren Frisuren angedeihen ließ – das Haar der Männer konnte bis zum Boden reichen, doch Brauen und Wimpern zupften sie sich aus. Er fand, daß das Interesse des Leutnants an den Mittelscheiteln der Frauen und an ihren ordentlichen Zöpfen, die bis zur Taille reichten, ein wenig über die Neugier eines neutralen Beobachters hinausging. Zweifellos gefielen sie ihm, und Bob fragte sich, ob er mit einer von ihnen geschlafen hatte. Er vermutete es. Und als der Leutnant mit »Mr. Charbonard« Old Bark aufsuchte, einen bedeutenden Cheyenne (mit wunderschöner Tochter), da erfüllte Bob ein ehrfürchtiger Schauder ob seiner Berührung mit der Lewis-und-Clark-Expedition von 1 804, denn »Mr. Charbonard« war Baptiste Charbonneau, der Sohn von Sacajawea und Toissaint Charbonneau, den Sacajawea als Säugling auf ihrem Rücken den ganzen Weg zum Großen Wasser im Westen getragen hatte. Was der Leutnant 1 845 geschrieben hatte, hielt Bob in seiner Hand, und er spürte, wie die seit langem tote Stimme zu ihm sprach.
    Gegen Ende der Woche, als er über einer Tasse dünnem Kaffee im Mexicali Rose saß, streckte der Koch den Kopf aus dem viereckigen Loch, aus dem die Teller mit paniertem Steak auftauchten.
    »He, Bob Dollar, wollen Sie Ihre Eier normal oder auf beiden Seiten gebraten? Und sind Sie immer noch auf der Suche nach einem Zimmer?«
    »Beide Seiten. Und klar bin ich das.«
    »Ich habe nämlich gehört, daß eine Dame in Woolybucket was zu vermieten hat. Falls es Ihnen nichts ausmacht, dort zu wohnen. Ziemlich tote Hose. Ich habe die Nummer für Sie aufgeschrieben.« Er hielt ein abgerissenes Stück Zeitung durch die Öffnung. »Wenn Sie nicht blöd sind, nehmen Sie sich was zu essen mit. In Woolybucket gibt es keine Futterstelle. Vor fünfzehn Jahren gab es mal was, von einer alten Dame betrieben, na ja, was heißt schon ›alte Dame‹ – kein Mensch weiß, ob sie Männlein oder Weiblein war.«
    »Danke. Und ich würde gerne eine Portion Backhuhn mitnehmen.«
     
    Er sah auf seiner Landkarte nach. Woolybucket war der nächste Ort nach Cowboy

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