Mitten in der großen Krise. Ein »New Deal« für Europa (German Edition)
Maßnahmen sind aus makroökonomischer Perspektive richtig, und aus sozialer auch. In der EU wird hingegen die alte Rezeptur propagiert: Staatsausgaben senken, Privatisieren, zur Not auch Steuern erhöhen, aber keinesfalls für die Vermögenden und Bestverdiener (dazu später).
These 9: Dem neoliberalen Konsolidierungskonzept liegt ein extrem einseitiger Staatsbegriff zugrunde.
Dieser ist ein Abkömmling von Hobbes’ »Leviathan«: Der Staat als ein bürokratischer Apparat, der durch ineffiziente Verwaltung und unnötige Sozialleistungen den BürgerInnen viel Geld aus der Tasche zieht. Wo kein Marktversagen vorliegt und auch Private die Produzentenrolle wahrnehmen können, sollte sich der Staat daher zurückziehen (letztlich könnten wir dann auch die sozialstaatliche Kranken- und Pensionsversicherung abschaffen – Marktversagen wird schwer wissenschaftlich zu beweisen sein und Private können ja auch die Leistungen erbringen – zum »Wie« siehe das Gesundheits- und Pensionssystem in den USA ).
Der (neoliberale) Staatsbegriff ist deshalb so absurd einseitig, weil er den Menschen nur in seiner Eigenschaft als Individuum, nicht aber als Teil von Gemeinschaften und der Gesellschaft begreift (»Jeder ist seines Glückes Schmied«).
Folgender Staatsbegriff erscheint mir stimmiger, gerade mitten in einer schweren Krise. Der Staat ist (auch) »unser Verein«, der die gemeinschaftlichen Angelegenheiten übernimmt. Was gemeinschaftlich ist, bestimmen die BürgerInnen, letztlich das Parlament – nicht aber die Ökonomen. Wenn in einer Gesellschaft eine Präferenz für einen ausgebauten Sozialstaat besteht, wenn man/frau die Umweltbedingungen gründlich verbessern will, wenn die Lebenschancen der sozial Schwachen verbessert werden sollen, dann muss eben mehr in die Vereinskasse eingezahlt werden, und zwar jeder nach seinen Möglichkeiten. Im Klartext: Die Staatsquote steigt, aber dafür bekommen wir auch etwas von »unserem Verein«.
These 10: Jede schwere und hartnäckige Wirtschaftskrise kann nur durch eine – nachhaltige, wenn auch mittelfristig temporäre – Erhöhung der Staatsquote überwunden werden.
Der Grund dafür ist trivial: Schwere Krisen sind dadurch charakterisiert, dass Unternehmen, Haushalte und das Ausland ihre Nachfrage einschränken, jedenfalls aber nicht so stark ausweiten wie für einen Aufschwung nötig wäre. Nur wenn der Staat bereit ist, einzuspringen, kann die Krise ohne schwere gesamtwirtschaftliche Verluste bewältigt werden. So haben jene Länder die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre am besten gemeistert, welche die Nachfrage des Staates nachhaltig ausweiteten wie die skandinavischen Länder (insbesondere Schweden) durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates oder die USA unter Roosevelt durch seinen »New Deal« (freilich übernahm er die Präsidentschaft erst am Tiefpunkt der Krise).
In einem technisch-makroökonomischen Sinn war auch die Wirtschaftpolitik von Hitler erfolgreich, allerdings diente die Ausweitung der Staatsquote der Vorbereitung eines Krieges.
Wie Budgetdefizite und Staatsverschuldung reduziert werden können, insbesondere angesichts anderer Probleme von steigender Arbeitslosigkeit und Armut bis zum Klimawandel, hängt entscheidend davon ab, wie sich die Wirtschaft in den kommenden Jahren entwickelt. Eine Standortbestimmung ist daher Voraussetzung für die Konzipierung einer Gesamtstrategie.
9. Szenario der weiteren Entwicklung
Nach der Phase 1 der Krise (Panik, Furcht und Reue) zwischen Oktober 2008 und April 2009, in der gründliche Reformen des Finanzsektors, Regulierungen der Märkte etc. versprochen wurden, setzte die Phase der Verdrängung und Verleugnung ein (Phase 2: »Wir machen weiter wie vorher«): Die Aktienkurse boomten stärker als je zuvor, auch die Rohstoffpreise, insbesondere die Ölpreise, belebten sich. Jene Banken, die kaum mehr etwas mit der Realwirtschaft zu tun haben (Goldman Sachs, Deutsche Bank und andere »Finanzalchemisten«) betrieben die (Derivat-)Spekulation noch intensiver als zuvor, ihre Gewinne waren 2009 enorm.
Da im Finanzkapitalismus die Signale der Finanzmärkte als Vorboten der realwirtschaftlichen Entwicklung gedeutet werden und sich auch Welthandel und Industrieproduktion zu beleben begannen, glaub(t)en die meisten Ökonomen, das Schlimmste sei ausgestanden. Sie berücksichtigten zu wenig, dass die Erholung – in Relation zu den zusätzlichen Haushaltsdefiziten – schwach ist, dass durch ineffiziente Steuersenkungen
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