Mitten in der Nacht
Demütigung dämpfte fürs Erste die Wut. Lucian schüttelte seine Haare und kam auf die Beine.
Er sah hinab auf seinen Bruder, diesem Spiegel seiner Selbst, und empfand eine andere Art von Scham. »Ist es so weit mit uns gekommen?«, sagte er müde. »Dass wir uns in Bordellen schlagen und in der Gosse liegen. Ich möchte Frieden zwischen uns, Julian. Gott weiß, dass ich nirgendwo sonst Frieden finde.«
Wie eine Opfergabe streckte er ihm eine Hand entgegen, bot Julian an, ihm auf die Beine zu helfen.
Aber Julians Scham war anders gefärbt. Sie war schwarz.
Er würde sich nicht mehr daran erinnern, dass er das Messer aus seinem Stiefel zog. Alkohol, Wut und Schuld machten ihn blind. Und er würde sich auch nicht daran erinnern, dass er auf seine Füße sprang und damit ausholte.
Mit wilder Schadenfreude spürte er, wie die Klinge das Fleisch seines Bruders durchtrennte. Blutrünstig hatte er die Lippen nach hinten gezogen, in seinen Augen stand der Wahnsinn.
Sie kämpften, Lucian voller Schmerz und Entsetzen, Julian wie hinter einem schwarzen Schleier, um das schlüpfrige Heft des Messers in ihren Händen.
Und wie ein versengender Blitz traf Lucian das helle Entsetzen, als Julian mit weit aufgerissenen Augen dem Tod entgegensah und ihn einließ.
»Mère de Dieu«, murmelte Julian und starrte hinab auf das Blut, das seine Brust tränkte. »Du hast mich getötet.«
Manet Hall
2002
Aus dem Süden hatte es die Hitze ins Land gepumpt. Declan hatte das Gefühl, selbst die Luft würde schwitzen. Morgens und abends, wenn es halbwegs erträglich war, arbeitete er draußen. An den Nachmittagen suchte er die kühleren Regionen des Hauses auf.
Das ständige Hin- und Herschleppen der Werkzeuge kostete Zeit, aber er machte Fortschritte. So lautete der Name des Spiels.
Lena ließ er in Ruhe – er konnte sich gut vorstellen, dass sie sich abregen und beruhigen musste. Aber er dachte ständig an sie.
Er dachte an sie, wenn er Bretter nagelte, wenn er Farbmuster prüfte, wenn er Deckenventilatoren anbrachte.
Und er dachte an sie, wenn er mitten in der Nacht aufwachte und sich am Teichufer zusammengerollt im Gras wiederfand, Lucians Uhr in der Faust und sein Gesicht tränenfeucht.
Er hatte versucht, im Tageslicht jeglichen Gedanken an sein Schlafwandeln auszusperren. Aber sie konnte er nicht aussperren.
Noch einen Tag, verordnete er sich, als er sich den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Dann würde er in die Stadt fahren und an ihre Tür klopfen. Sollte er sie in die Ecke drängen und zwingen müssen, mit ihm zu reden, dann würde er das eben tun.
Remys Hochzeit rückte immer näher. Und dies bedeutete, dass er nicht nur Zeuge wurde, wie sein bester Freund in den Hafen der Ehe einlief, sondern... dass auch seine Eltern in die Stadt kamen.
Lächerlicherweise war er dankbar, dass sie sein Angebot ausgeschlagen hatten, bei ihm zu wohnen. Es wäre für alle die weitaus glücklichere Lösung, wenn sie eine hübsche Hotelsuite für sich hatten.
Dessen ungeachtet war er jedoch entschlossen, die Galerien und eins der Gästezimmer fertig zu stellen. Auf diese Weise sähe das Haus sehr eindrucksvoll aus, wenn sie die Einfahrt heraufkamen, und er könnte ihnen beweisen, dass er über das ihnen angebotene Zimmer auch tatsächlich verfügte.
Seine Mutter würde sich garantiert vergewissern. Das stand fest.
Er stieg die Leiter herunter, griff nach dem Küh lbehälter und trank einen großen Schluck Wasser. Dann goss er sich den Rest davon über den Kopf. Erfrischt spazierte er über den Rasen und warf dann einen Blick zurück.
Triefnass und schon beinahe dampfend, spürte er das breite Lächeln auf seinem Gesicht.
»Nicht schlecht«, sagte er laut. »Für einen Yankee-Dilettanten sogar ganz gut.«
Er hatte die Arbeit an den Doppeltreppen abgeschlossen. In kühnem Schwung bogen sie sich links und rechts vom Eingang hoch zur Galerie des ersten Stocks. Ihre Eleganz machte alle Kerben, Schnitte, Kratzer und die vielen Stunden Arbeit wieder wett.
Ihm wurde klar, dass sie sein Stolz und seine Freude waren.
Jetzt musste er noch die Anstreicher bestechen, damit sie in dieser Bruthitze arbeiteten. Oder für einen Wetterumschwung beten.
Wie auch immer, er wollte nicht warten, bis er die Rückseite des Hauses fertig hatte. Er wollte die Fassade gestrichen sehen, wollte dort stehen, wo er jetzt stand, und sie in bräutlichem Weiß leuchten sehen.
Um sich eine Freude zu machen, ging er zurück, schritt langsam über die
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